»Ich diene lediglich als eine Art Leitungsdraht«, erklärte mir Faxe einen oder zwei Tage nach der Weissagung.»Die Energie baut sich in uns immer weiter auf, wird immer wieder zurückgeschickt, um jedesmal ihre Kraft zu verdoppeln, bis sie zuletzt durchbricht, und dann ist das Licht in mir, ist das Licht um mich, bin ich das Licht… Der Alte der Festung Arbin sagte einmal, wenn der Weber im Augenblick der Antwort in ein Vakuum gesetzt werden könnte, dann würde er jahrelang weiterbrennen. Genau das, was die Yomeshta von Meshe glauben: daß er die Vergangenheit und die Zukunft klar vor sich sah — nicht nur einen Augenblick lang, sondern, nach der Frage von Shorth, sein ganzes Leben hindurch. Schwer zu glauben. Ich jedenfalls bezweifle, daß ein Mensch so etwas ertragen kann. Aber nusuth, unwichtig…«
Nusuth, das ewige und vieldeutige Negativum der Handdara.
Wir schritten nebeneinander, und Faxe sah mich an. Sein Gesicht, eines der schönsten menschlichen Gesichter, die ich jemals gesehen hatte, wirkten so hart und zart wie gehauener Stein.»In der Dunkelheit waren wir zehn«, sagte er.»Nicht neun. Es war ein Fremder da.«
»Ja, das stimmt. Ich hatte keine Barriere gegen euch. Sie sind ein Lauscher, Faxe, ein natürlicher Empath; und außerdem vermutlich ein starker, natürlicher Telepath. Deswegen sind Sie der Weber, derjenige, der die Spannungen und Reaktionen der Gruppe zu einem sich selbst steigernden Muster konzentrieren kann, bis die Belastung das Muster durchbricht und Sie durch diesen Bruch nach der Antwort greifen.«
Er lauschte mit ernster Aufmerksamkeit.»Es ist merkwürdig, die Mysterien meiner Disziplin einmal von außen, sozusagen durch Ihre Augen zu sehen. Bis jetzt habe ich sie, als Ausübender, nur von innen gesehen…«
»Wenn Sie gestatten… Wenn Sie es wünschen, Faxe, dann würde ich gerne versuchen, mit Ihnen per Gedankensprache Kontakt aufzunehmen.«Ich war jetzt überzeugt, daß er ein natürlicher Kommunikant sein mußte; mit seiner Zustimmung und etwas Übung müßte es möglich sein, seine unbewußte Barriere zu überwinden.
»Konnte ich dann hören, was die anderen denken?«
»Nein, nein. Jedenfalls nicht anders, als Sie es als Empath bereits tun. Die Gedankensprache ist ein Kommunikationsmittel, mit dem man freiwillig sendet und empfängt.«
»Aber warum spricht man dann nicht gleich laut?«
»Nun ja, wenn man laut spricht, kann man lügen.«
»Bei der Gedankensprache nicht?«
»Nicht absichtlich.«
Darüber dachte Faxe eine Weile nach.»Dann ist das eine Übung, für die sich Könige, Politiker und Geschäftsleute interessieren dürften.«
»Die Geschäftsleute haben den Gebrauch der Gedankensprache von dem Augenblick an bekämpft, da man herausfand, daß sie erlernbar ist; sie wurde daraufhin jahrzehntelang verboten.«
Faxe lächelte.»Und die Könige?«
»Wir haben keine Könige mehr.«
»Ja. Aha, ich verstehe… Also, Genry, ich danke Ihnen. Doch meine Aufgabe ist nicht das Lernen, sondern das Entlernen. Außerdem möchte ich eine Kunst, mit der man die Welt völlig verändern könnte, nicht unbedingt lernen.«
»Nach Ihrer eigenen Weissagung wird diese Welt sich ohnehin verändern, und zwar innerhalb der nächsten fünf Jahre.«
»Und ich werde mich mit ihr verändern, Genry. Den Wunsch, sie aktiv zu verändern, habe ich dagegen nicht.«
Es regnete, den langen, feinen Regen des gethenianischen Sommers. Wir wanderten an den Hängen über der Festung durch die Hemmenbäume, ohne die Pfade zu benutzen. Das Licht fiel grau durch die dunklen Zweige, kristallklares Wasser tropfte von scharlachfarbenen Nadeln. Die Luft war kühl, und dennoch mild, ganz erfüllt vom Geräusch des Regens.
»Faxe, ich wüßte gern eines: Ihr Handdarata habt eine Gabe, um die euch jeder Mensch auf jeder Welt beneiden würde: Ihr könnt die Zukunft voraussagen. Und trotzdem lebt ihr genau wie alle anderen… Es scheint nicht von Bedeutung für euch zu sein…«
»Warum sollte es von Bedeutung sein, Genry?«
»Nun ja, zum Beispiel, diese Rivalität zwischen Karhide und Orgoreyn, dieser Streit um das Sinoth-Tal. Karhide hat, wie ich vermute, in diesen vergangenen Wochen ziemlich viel an Gesicht verloren. Warum also hat König Argaven nicht seine Weissager konsultiert und sie gefragt, was er unternehmen, welches Mitglied der kyorremy zum Premierminister ernennen sollte, oder irgend etwas ähnliches?«
»Derartige Fragen sind schwer zu beantworten.«
»Das kann ich nicht einsehen. Er könnte doch einfach fragen: Wer wird mir als Premierminister am besten dienen? Und es dabei belassen.«
»Das könnte er. Aber er weiß ja nicht, was ›ihm am besten dienen‹ ist. Es könnte bedeuten, daß der Erwählte das Tal an Orogoreyn abtreten, oder ins Exil gehen oder auch den König umbringen soll. Es könnte tausend Dinge bedeuten, die er weder erwarten noch akzeptieren würde.«
»Er müßte seine Frage eben sehr präzise formulieren.«
»Gewiß. Aber dann gäbe es viele Fragen. Und selbst ein König muß den Preis bezahlen.«
»Würdet ihr sehr viel von ihm fordern?«
»Sehr viel«, erwiderte Faxe gelassen.»Der Fragesteller bezahlt immer, was er sich leisten kann. Natürlich sind auch schon Könige zu den Weissagern gekommen, doch nicht sehr oft…«
»Was ist, wenn einer der Weissager selbst ein sehr mächtiger Mann ist?«
»Die Bewohner der Festung besitzen weder Rang noch Stand. Es wäre möglich, daß man mich nach Erhebung in die kyorremy schickt, doch wenn ich gehe, nehme ich meinen Stand und meinen Schatten wieder auf, und meine Weissagerei hat ein Ende. Wenn ich während des Dienstes in der kyorremy eine Frage hätte, würde ich zur Festung Orgny gehen, den Preis bezahlen und mir die Antwort holen. Wir in der Handdara jedoch wollen keine Antworten. Es ist zwar schwierig, sie zu vermeiden, aber wir geben uns große Mühe.«
»Ich muß gestehen, Faxe, daß ich das nicht begreife.«
»Nun, wir kommen hauptsächlich hier in die Festung, um zu lernen, welche Fragen man nicht stellen soll.«
»Aber ihr seid die Beantworter!«
»Erkennen Sie denn noch immer nicht, weshalb wir das Weissagen vervollkommnet haben und es ausüben?«
»Nein…«
»Um zu beweisen, wie sinnlos es ist, die Antwort auf die falsche Frage zu kennen.«
Während wir weiter Seite an Seite unter den dunklen Zweigen des Otherhord-Waldes durch den Regen wanderten, dachte ich geraume Zeit darüber nach. Faxes Gesicht unter der weißen Kapuze wirkte müde und sehr still; sein Licht war erloschen. Und trotzdem hatte ich immer noch tiefe Ehrfurcht vor ihm. Wenn er mich mit seinen klaren, freundlichen, ehrlichen Augen ansah, dann sah er mich aus einer dreizehntausend Jahre alten Tradition heraus an: aus einer Denk- und Lebensform heraus, die so alt, so gefestigt, so umfassend und so einheitlich war, daß sie dem Menschen die Sicherheit, die Autorität, die Ganzheit eines wilden Tieres verlieh, einer fremdartigen Kreatur, die aus ihrer ewigen Gegenwart heraus dem anderen gerade in die Augen blickt…
»Das Leben«, erklang Faxes weiche Stimme in diesem Wald,»basiert auf dem Unbekannten, dem Unvorhergesehenen, dem Unbewiesenen. Unwissen ist die Grundlage allen Denkens. Unbewiesenheit ist die Voraussetzung der Tat. Wenn es bewiesen wäre, daß es keinen Gott gibt, dann gäbe es auch keine Religion. Keine Handdara, keinen Yomesh, keine Herdgötter, nichts. Doch wenn es wiederum bewiesen wäre, daß es einen Gott gibt, dann gäbe es ebenfalls keine Religion… Sagen Sie mir, Genry: was ist bekannt? Was ist gewiß, vorhersagbar^ unvermeidbar… die einzige Tatsache, die Ihre Zukunft — und die meine — betrifft, und die wir mit Bestimmtheit wissen?«
»Daß wir sterben müssen.«
»Sehen Sie? Es gibt also in Wirklichkeit nur eine einzige Frage, die beantwortet werden kann, Genry, und die Antwort darauf kennen wir bereits… Das einzige, was das Leben überhaupt ermöglicht, ist die ständige, unerträgliche Ungewißheit: ist, nicht zu wissen, was als nächstes geschieht.«
Читать дальше