Barbara streckte den Kopf aus dem Fenster. »Es ist wirklich die Flut«, beteuerte sie. »Sie wird durch den neuen Planeten hervorgerufen.« Bei diesen Worten warf sie einen Blick auf die nach Osten führende Straße zurück, die der Rolls-Royce erst vor wenigen Minuten entlanggerollt war. Dort stieg jetzt der Wanderer am Himmel auf. Die glitzernde Spindel des Mondes, deren eines Ende seltsam verkürzt wirkte, sah wie ein Sack aus, den das Ungeheuer hinter sich herschleppte.
»Oh, den meinen Sie«, sagte der Polizist grinsend. »Das Zeug dort oben am Himmel braucht uns nicht zu kümmern. Es spielt hier unten keine Rolle. Ich spreche von Dingen, die sich auf der Erde ereignen.«
»Aber das ist der Mond, der sich allmählich auflöst«, widersprach Barbara.
»Der Mond sieht anders aus«, stellte der andere geduldig fest. »Wahrscheinlich ist er irgendwo hinter dem Horizont.«
»Aber der neue Planet erzeugt wirklich höhere Fluten«, sagte Barbara eindringlich. »Die erste war noch nicht so schlimm, aber die nächsten werden immer höher. Florida ist an keiner Stelle mehr als neunzig Meter hoch. Vielleicht überspült das Meer dann die gesamte Halbinsel.«
Er breitete die Arme aus, als wolle er die warme Nacht, in der es durchdringend nach blühenden Orangen duftete, zum Zeugen anrufen. Dann grinste er tolerant.
»Ich will Sie nur warnen«, fuhr Barbara fort. »Der Planet dort oben bedeutet Unheil.« Der Polizist grinste weiter.
Sie wurde plötzlich wütend. »Warum halten Sie alle Fahrzeuge auf, obwohl doch angeblich nichts Wichtiges passiert?« erkundigte sie sich aufgebracht.
Das Grinsen verschwand. »Wir sorgen dafür, daß in Citrus Center Ruhe und Ordnung herrscht«, antwortete der Polizist scharf. Er wandte sich ab, um zu dem nächsten Wagen zu gehen. »Sagen Sie dem Chauffeur, er soll weiterfahren, bevor ich mir die Sache anders überlege. Hoffentlich läßt Ihr Boß nicht immer seine Nigger für sich reden. Die Schwarzen, die studiert haben, sind am schlimmsten von allen. Auf dem College gibt man sich alle Mühe, euch ein bißchen Wissenschaft beizubringen, aber dann bringt ihr das Gelernte wieder mit eurem komischen Aberglauben durcheinander.«
Sie fuhren schweigend nach Norden weiter, während der Wanderer hinter ihnen langsam am Himmel emporstieg. Knolls Kelsey Kettering III. atmete mühsam und keuchend. »Wir müssen ein Bett für ihn finden«, stellte Hester fest. »Er muß sich irgendwo ausstrecken können.«
Benjy fuhr langsamer, weil er ein Straßenschild lesen wollte. »Sie verlassen jetzt die Everglades und kommen in das Hochland.« Er lachte plötzlich fröhlich. »Das Wort Hochland gefällt mir wirklich!«
Ist das Land wirklich hoch genug? fragte Barbara sich.
Doc und Margo folgten dem felsigen Steilhang bis zum höchsten Punkt und suchten die Umgebung der Straße zweihundert Meter weit jenseits der Sperre ab, ohne das geringste Anzeichen für die Gegenwart anderer Menschen zu finden. Das einzige Lebenszeichen in dieser verlassenen Gegend waren einige Eidechsen, die rasch zwischen den Steinen verschwanden, als sie Schritte hörten. Das breite Tal zwischen den beiden letzten Bergrücken war schwarz verbrannt und enthielt nur einige kümmerliche Büsche an unzugänglichen Stellen, die das Feuer überstanden hatten. Vermutlich hatte hier noch vor wenigen Stunden ein Buschfeuer gewütet — was zumindest erklärte, weshalb nicht mehr Leute in diese Richtung gefahren waren.
Clarence Dodd und Harry McHeath schlossen sich dem Erkundungsteam an, so daß die von Doc gestellte Aufgabe schon eine Viertelstunde später zur allgemeinen Zufriedenheit als gelöst betrachtet werden konnte. McHeath berichtete, daß die beiden Revolver des Mannes mit dem schwarzen Hut trotz eifriger Suche unauffindbar geblieben waren.
Die beiden Wagen auf der anderen Seite des Felsens waren nicht abgeschlossen; Doc öffnete die Türen und steckte die Zündschlüssel ein. Doddsy schrieb die Namen der Besitzer von der Zulassung ab, wobei er seine Taschenlampe benützen mußte, weil das Tageslicht nicht mehr ausreichte. Dabei überlegte er sich, ob einer dieser beiden Autobesitzer der Mörder war. Er und seine Begleiter mußten in den beiden Wagen gekommen sein; das Mädchen in dem roten Sportwagen war aus der anderen Richtung gekommen. An dieser Stelle hatten alle drei Fahrzeuge anhalten müssen — und dann, vermutlich vor dem Regen, während im Hintergrund noch das Feuer wütete ... am besten dachte man gar nicht darüber nach.
In der Zwischenzeit hatten Hunter und die Hixons die Leiche der jungen Frau in die Plane des Lieferwagens gewickelt. Das mit einem Seil verschnürte Bündel wurde dann zwanzig Meter weit den Abhang hinaufgetragen und in einer niedrigen Höhle abgelegt, die der junge Harry McHeath entdeckt hatte. Doddsy legte einen kurzen Bericht bei, den er mit wasserfester Tinte geschrieben hatte, und schilderte darin die Auffindung der Leiche. Darunter standen die mit einem großen Fragezeichen versehene Adresse und der Name der jungen Frau, wie sie auf der Zulassung des Thunderbirds wiedergegeben waren. Der Ladestock murmelte ein kurzes Gebet und bekreuzigte sich dann, während die anderen mit gesenkten Köpfen hinter ihm standen.
Dann fühlten sie sich alle wieder etwas besser, obwohl ihnen jetzt deutlicher als zuvor zu Bewußtsein kam, daß sie müde und erschöpft waren, so daß eine Weiterfahrt nicht in Frage kam — die wegen der versperrten Straße ohnehin nicht ohne weiteres möglich gewesen wäre. Sie richteten sich für die Nacht ein und brachten vor allem die beiden Verletzten in dem Schulbus unter, weil es vor Tagesanbruch noch erheblich kühler werden würde. Hixon machte sich wegen der Felsen über der Straße Sorgen und fürchtete, daß sie bei einem weiteren Erdbebenstoß auf die Fahrzeuge herabstürzen könnten. Aber Doc beruhigte ihn mit dem Hinweis darauf, daß die Anziehungskraft des Wanderers vermutlich bereits in den ersten Stunden nach seinem Erscheinen alle Erdbewegungen ausgelöst hatte, die zu erwarten waren. Außerdem hatten die Felsen bisher alle Stöße überstanden, ohne ihre Lage zu verändern.
Doc entschied, daß jeweils zwei Mitglieder der Gruppe in warme Decken gehüllt auf einem Felsvorsprung über der Straße Wache halten sollten. Die Posten würden eines der beiden Gewehre und Margos graue Pistole mit auf Wache nehmen. Doddsy und McHeath waren bis Mitternacht an der Reihe, Ross Hunter und Margo von Mitternacht bis zwei Uhr dreißig, er selbst und Rama Joan von halb drei bis Tagesanbruch. Hixon erhielt das zweite Gewehr und sollte im Fahrersitz des Busses schlafen. Die beiden Frauen, die als Posten eingeteilt waren würden im Führerhaus des Lieferwagens mit Ann schlafen. Als Wanda eine halblaute Bemerkung über die seltsame Wacheinteilung machte, fuhr Doc sie an, sie solle lieber froh sein, daß sie nicht selbst auf Wache stehen müsse, sondern friedlich schlafen könne.
Der Primuskocher wurde in Betrieb genommen. Als das Wasser heiß war, gab es Pulverkaffee. Das Abendessen bestand aus Kaffee, Milch und den Sandwiches aus dem Bus, die mit Erdnußbutter und Marmelade bestrichen waren.
Margo hatte sich eingebildet, dieses süßliche oder klebrige Zeug nicht essen zu können, stellte aber nach dem ersten Bissen fest, wie ausgehungert sie war, und aß vier Sandwiches, die sie mit einem Liter Milchkaffee hinunterspülte. Nach dem Essen lehnte sie sich zufrieden zurück und wandte sich an den Ladestock, um ihm eine Frage zu stellen, die sie schon lange beschäftigte. »Mister Fulby, ist es wahr, daß Sie mit Ida und Wanda verheiratet sind?«
Der Ladestock nickte und antwortete sofort: »Richtig, Miß Gelhorn. In unseren Augen sind sie beide meine Frauen, und ich bin für ihr Wohlergehen verantwortlich. Im großen und ganzen ist unser Verhältnis zueinander immer recht erfreulich gewesen. Ich habe Wanda ursprünglich des Aussehens wegen geheiratet — sie war früher Tänzerin in einer Revue — und Ida um des Verstandes willen. Daran hat sich inzwischen natürlich einiges geändert ...«
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