Der Streifen bewegte sich im Takt weiter. Jede Kapsel gelangte dabei für eine Minute auf eine Metallplatte unmittelbar unter einem Sichtfenster aus Glimmerglas. Auf der anderen Seite des Strahlungszählers wurde auf einen abrollenden Kontrollstreifen eine Nummer ausgedruckt. Dann wurde die Kapsel weiter transportiert, und die nächste nahm ihren Platz unter dem Fenster ein.
Um 13:45 Uhr wurde die Nummer 308 ausgedruckt. Eine Minute später erschien die Nummer 256. Eine Minute später, 391. Eine Minute später, 477. Eine Minute später, 202. Eine Minute später, 251. Eine Minute später, 000. Eine Minute später, 000. Eine Minute später, 000. Eine Minute später, 000.
Kurz nach zwei kam Alexander Johannison am Zähler vorbei und warf einen flüchtigen Blick auf den Kontrollstreifen mit seiner Zahlenreihe. Zwei Schritte weiter blieb er stehen und kehrte um.
Er drehte den Ausdruckzylinder zurück, las die Zahlen ab, ließ ihn wieder vorlaufen und murmelte: „Verrückt!“
Alexander war groß und hager, mit derbknochigen Händen, sandfarbenem Haar und hellen Augenbrauen. Er sah müde und, im Augenblick, verdutzt aus.
Gene Damelli kam mit der für ihn charakteristischen heiteren Gelassenheit des Weges. Er war dunkel, behaart und untersetzt. Er hatte ein gebrochenes Nasenbein, und so entsprach sein Aussehen kaum der landläufigen Vorstellung von einem Kernphysiker.
Damelli sagte: „Mein verdammter Geigerzähler nimmt nichts auf, und ich bin nicht in der Stimmung, die Innereien durchzusuchen. Hast du eine Zigarette?“
Johannison hielt ihm eine Packung hin. „Was ist mit den anderen im Gebäude?“
„Ich habe nicht nachgesehen, kann mir aber nicht denken, daß sie alle hin sind.“
„Warum eigentlich nicht? Mein Zähler zeigt auch nichts an.“
„Hat nichts zu bedeuten, Alex“, meinte Damelli. „Wird an der Stromversorgung liegen. In zehn Minuten zeigen die Dinger wieder an. Laß uns ‘rausgehen und eine Cola trinken.“
Johannison schüttelte energisch den Kopf. „Nein, mein Lieber, ich werde zu George Duke gehen und mir seine Maschine ansehen. Wenn sie auch nichts anzeigt ...“
Damelli schloß sich ihm an. „Dukes Maschine muß anzeigen, Alex. Sei kein Esel.“
George Duke hörte Johannison an und betrachtete ihn mißbilligend über die randlose Brille hinweg. Er war ein Mann unbestimmten Alters, mit wenig Haar und noch weniger Geduld.
„Ich habe zu tun“, sagte er abwehrend. „Zuviel zu tun, um nachzusehen, ob Ihre Anlage arbeitet, in Gottes Namen?“
Duke stand auf. „Ich frage mich, wann man hier zum Arbeiten kommt?“ murmelte er verdrießlich. Sein Rechenschieber fiel auf verstreute Blätter liniierten Papiers, und er umrundete seinen Schreibtisch.
Er ging zu einem Abteil neben einem mit Apparaten überladenen Labortisch und hob den schweren grauen Bleideckel von einem strahlensicheren Behälter. Er langte mit einer halbmeterlangen Zange hinein und nahm einen kleinen, silbrigen Zylinder heraus.
„Bleiben Sie, wo Sie sind“, knurrte er.
Johannison und Damelli hatten den Rat nicht nötig; sie blieben auf Distanz. Es hatte keinen Sinn, sich unnötig einer wie auch immer gearteten Dosis radioakti-ver Strahlung auszusetzen, und was Duke in der Kapsel hielt, war „heißes“ Kobalt.
Duke trat zum Labortisch und hielt die glänzende Metallkapsel mit der Zange vor das Fenster seines Zählers. Auf einen Meter Entfernung hätte der Zähler wie ein Maschinengewehr knattern müssen. Aber er blieb still.
Duke sagte: „Was?“ und ließ den kleinen Behälter mit dem Kobalt fallen. Hastig bückte er sich, bekam ihn wieder in die Zange und hielt ihn abermals ans Fenster, diesmal ganz nahe.
Der Zähler gab keinen Ton von sich. Die Lichtpunkte auf der Meßskala blieben auf der Nullmarke.
Johannison sagte: „Nicht mal Hintergrundgeräusche.“
„Jesus Maria!“ rief Damelli.
Duke tat das Kobalt wieder in den Bleibehälter, schloß den Deckel und starrte seine zwei Besucher finster an.
Johannison stürmte, gefolgt von Damelli, in Bill Eve-rards Büro. Er sprach minutenlang und begleitete seine Rede mit aufgeregten Gesten seiner knochigen Hände. Everard hörte ruhig zu, aber seine glatten, frischrasierten Wangen färbten sich rosig, und der dicke Hals schien aus dem steifen, weißen Kragen quellen zu wollen.
Während Johannison noch redete, blickte Everard zu Damelli und zeigte mit fragender Daumenbewegung zu Johannison. Damelli zuckte mit den Schultern, breitete die Arme aus und zog die Stirn in Falten.
Everard sagte verdrießlich: „Ich verstehe nicht, wie alle zusammen versagen können.“
„Sie haben, das ist alles“, entgegnete Johannison. „Ungefähr um zwei Uhr fielen sie alle aus. Das ist jetzt über eine Stunde her, und nichts hat sich geändert. Sogar George Duke ist ratlos. Ich sage Ihnen, es liegt nicht an den Zählern.“
„Aber Sie sagen doch, daß es an den Zählern liegt!“
„Ich sage, daß sie nicht anzeigen. Aber das liegt nicht daran, daß die Zähler allesamt defekt wären. Sie haben einfach nichts anzuzeigen.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Ich meine, es gibt keine Radioaktivität mehr. Weder in diesem Gebäude noch sonstwo.“
„Ausgeschlossen.“
„Wissen Sie, wenn eine Patrone mit heißem Kobalt einen Geigerzähler nicht zum Ticken bringt, dann ist der Zähler vielleicht nicht in Ordnung. Aber wenn dieselbe Patrone nicht einmal Schleier auf einen fotografischen Film bringt, dann ist mit der Patrone etwas nicht in Ordnung.“
„Na gut“, meinte Everard. „Dann ist es eben eine taube Nuß. Es wurde versäumt, sie zu füllen.“
„Gut, vielleicht können Patronen irgendwie vertauscht werden. Aber ich habe diesen Brocken Pechblende aus unserem Schaukasten im vierten Stock geholt, und auf ihn reagieren die Zähler ebensowenig. Sie werden mir doch nicht erzählen wollen, jemand habe vergessen, das Uran hineinzutun.“
Everard rieb sich das Ohr. „Was meinen Sie, Damelli?“
Damelli schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Erklärung dafür.“
„Jetzt ist keine Zeit zum Denken“, sagte Johannison. „Es ist Zeit zum Handeln. Sie müssen Washington anrufen.“
„Weswegen?“ fragte Everard.
„Wegen der Atomwaffenvorräte.“
„Was?“
„Das könnte die Antwort sein, Mr. Everard. Angenommen, jemand hat eine Methode gefunden, die jede Art von radioaktivem Zerfall zum Stillstand bringen kann. Vielleicht überdeckt dieses Phänomen unser ganzes Land. Wenn das der Fall ist, kann es nur den Zweck haben, unsere Atomwaffen zu neutralisieren. Da der Gegner nicht weiß, wo wir sie lagern, muß er das gesamte Territorium abdecken. Und wenn das der Fall ist, bedeutet es, daß mit einem Angriff gerechnet werden muß. Vielleicht jeden Augenblick. Rufen Sie Washington, Mr. Everard.“
Everards Hand griff zum Telefon. Sein Blick begeg-nete Johannisons. Er sagte: „Bitte ein Ferngespräch.“
Es war fünf Minuten vor vier. Everard legte den Hörer auf.
„War das der Regierungskommissar?“ fragte Johannison.
Everard nickte stirnrunzelnd.
„Was sagt er?“
„,Lieber Freund’“, sagte Everard, „sagte er zu mir, ,was für Atomwaffen?“‘
Johannison sah ihn verwirrt an. „Was, zum Teufel, meint er damit? ,Was für Atomwaffen?’ Warten Sie, ich kann es mir denken! Sie haben bereits festgestellt, daß sie lauter Blindgänger in den Arsenalen haben und wollen nicht darüber reden. Nicht mal mit uns. Was jetzt?“
„Jetzt nichts“, sagte Everard. Er ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken und musterte den Physiker mit verdrießlicher Miene. „Alex, ich weiß, unter welcher Anspannung Sie stehen, darum will ich kein Aufhebens davon machen. Ich frage mich bloß, wie Sie es fertiggebracht haben, mich in diesen Unsinn hineinzuziehen?“
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