»Hester«, sagte ich, »was ist los? – Was?«
»Nicht trinken«, stöhnte sie, die Hand gegen den Leib gepreßt. »Das Coffiest. Gift. Ihre Rationen. Ich habe sie vorher probiert.« Ihre Nägel zerrissen den Stoff des Kleides, dann die Haut; sie wand sich vor Schmerzen.
»Einen Arzt!« rief ich ins Mikrophon. »Hier stirbt eine Frau!«
Die Stimme des Chefstewards antwortete: »Sofort, Sir. Der Bordarzt wird gleich da sein.«
Hester verzerrtes Gesicht entspannte sich, ich ängstigte mich wahnsinnig. Sie sagte leise: »Diese verfluchte Kathy. Hat Sie fertiggemacht. Sie sind zu gut für sie. Sie hätte ihr Leben nicht für Sie riskiert. Ich ja.« Wieder ging ein Zucken über ihr Gesicht. »Ehefrau contra Sekretärin. Zum Lachen. Immer dasselbe. Sie haben mich nicht einmal geküßt.«
Dazu hatte ich auch keine Gelegenheit mehr. Sie war bewußtlos, als der Schiffsarzt herbeigeeilt kam. Sein Gesicht verdüsterte sich. Wir brachten sie ins Lazarett, und er schloß sie an die Herzmassage-Maschine an; ihr Herz begann wieder zu schlagen. Ihre Brust hob und senkte sich, sie öffnete die Augen.
»Wo – sind – Sie?« fragte der Arzt laut und deutlich.
Sie bewegte leicht den Kopf, und Hoffnung durchzuckte mich.
»Reaktion?« flüsterte ich dem Arzt zu.
»Zufall«, sagte er mit berufsmäßiger Sachlichkeit. Er hatte recht. Ihr Kopf bewegte sich noch ein paarmal, die Augenlider flatterten nervös und unkontrolliert. Er stellte unaufhörlich Fragen. »Wo – sind – Sie?« Eine Falte entstand zwischen ihren Augen, die Lippen bebten, das war alles. Es dauerte ungefähr eine Minute, dann war sie tot.
Der Arzt begann mir freundlicherweise zu erklären: »Ich werde die Maschine jetzt abstellen. Sie müssen mir glauben, daß wirklich keine Hoffnung mehr besteht. Der klinische Tod ist eindeutig und unwiderruflich eingetreten. Menschen, die einem Sterbenden sehr nahe stehen, weigern sich oft, das zu glauben.«
Ich sah, wie ihre Augenlider unkontrolliert flatterten.
»Stellen Sie sie ab«, sagte ich heiser. Eigentlich meinte ich mit ›sie‹ Hester und nicht die Maschine. Er unterbrach den Stromkreis und zog die Nadel aus ihrem Körper.
»Hatte sie einen Schwindelanfall?« fragte er. Ich nickte.
»Ihr erster Raumflug?« Ich nickte. »Schmerzen im Unterleib?« Ich nickte. »Keine vorherigen Beschwerden?« Ich schüttelte den Kopf. »Frühere Schwindelanfälle?« Ich nickte, obgleich ich keine Ahnung hatte. Er wollte auf etwas ganz Bestimmtes hinaus. Er stellte weitere Fragen, und ich wußte genau, welche Antworten er erwartete. Allergien, häufige Blutungen, Kopfschmerzen, schmerzhafte Mensis, nachmittägliche Ermüdungserscheinungen – schließlich sagte er entschlossen:
»Ich glaube, es ist die Fleischmannsche Krankheit. Wir wissen nicht viel darüber. Sie hängt unserer Meinung nach mit einer Beeinträchtigung der Funktion der Adrenokortikotropkörper beim freien Flug zusammen. Dadurch wird eine Kettenreaktion der Gewebsunverträglichkeit ausgelöst, und wiederum beeinträchtigt die Cerebrospinalflüssigkeit…«
Er blickte mich an, und sein Ton veränderte sich. »Ich habe etwas Alkohol in meinem Schapp«, sagte er. »Möchten Sie…«
Ich griff nach der Flasche, dann erinnerte ich mich wieder. »Trinken Sie einen Schluck mit«, sagte ich.
Er nickte und trank ohne zu zögern aus der Flasche, die zwei Öffnungen hatte. Ich sah, wie sich sein Adamsapfel bewegte. »Nicht zuviel«, warnte er mich. »Wir landen in Kürze.«
Ein paar Minuten überbrückte ich mit alltäglicher Unterhaltung und beobachtete ihn dabei aufmerksam, dann schluckte ich ein Viertel hundertprozentigen Alkohol. Ich fand kaum zurück ins Abteil.
Kater, Trauer, Furcht und das rote Landungssignal, das mich fast verrückt machte. Ich hatte mich offenbar ziemlich dumm benommen. Ein paarmal hörte ich, wie jemand von der Besatzung zu den Flugplatzbeamten sagte: »Seien Sie freundlich zu dem Mann. Er hat unterwegs sein Mädchen verloren.«
In der überfüllten Empfangshalle mußte ich endlose Fragebögen ausfüllen; ich hatte keine Ahnung, was der offizielle Grund für mein Hiersein war. Ich gab an, ich sei Groby, Klasse 6, und sollte am besten direkt zu Fowler Schocken geschickt werden. Ich konnte mir gerade noch soviel zusammenreimen, daß wir uns vermutlich bei ihm melden sollten. Das nahm man mir nicht ab und schickte mich wieder auf eine Bank mit der Anweisung zu warten, bis man bei der Schockenfiliale in Luna City Nachforschungen angestellt hatte.
Ich wartete, schaute mich um und versuchte, nachzudenken. Das war nicht leicht. Die hin und her wogende Menge in der Empfangshalle bestand aus Leuten, die alle feste Pläne und Absichten hatten und zielstrebig umhergingen. Ich paßte nicht ins Muster; ich war verdächtig. Sie würden mich fassen…
Am Schreibtisch, einige Meter von mir entfernt, sprang eine Leuchtröhre an und blinkte. Ich las mit halbgeschlossenen Augen:
Schocken am Empfang. Betrifft Nachfrage. Kein Kurier mit diesem Flug erwartet. Bei uns kein Groby angestellt, Fowler Schocken wurde nicht befragt, aber unmöglich, daß jemand, der nicht in der Starklasse ist, ihm eine Nachricht überbringt. Mit Vorsicht zu behandeln. Offensichtlich faul.
Ende.
Ja, tatsächlich – Ende. Sie schauten mich an und unterhielten sich leise. Im nächsten Augenblick würden die Detektive, die überall herumstanden, einen Wink bekommen.
Ich erhob mich und mischte mich unter die Menge, mir blieb nur noch eine Möglichkeit, und die war beängstigend. Ich führte eine Reihe unauffälliger Gesten aus, die durch Reihenfolge und Dauer anzeigen, daß sich ein Natschu in großer Gefahr befindet.
Ein Wachtposten von Burns bahnte sich einen Weg durch die Menge und packte mich am Arm. »Wollen Sie Unruhe stiften?« fragte er.
»Nein«, sagte ich mit belegter Stimme.
Er winkte beruhigend zum Schreibtisch hinüber, man erwiderte grinsend das Zeichen. Er drückte mir den Schlagstock in den Rücken, und wir gingen durch die erstaunte Menge. Benommen ließ ich mich von ihm aus dem Empfang in eine tunnelähnliche Einkaufsstraße führen.
Reklame blinkte und leuchte aus den Schaufenstern, vor denen die Neuankömmlinge staunend herumflanierten.
»Halt«, brummte der Wachtposten. Wir blieben vor dem Schild »Warren Astron« stehen. Er murmelte: »Nehmen Sie mir den Schlagstock fort. Versetzen Sie mir einen festen Schlag auf den Kopf. Schießen Sie dann auf die Straßenbeleuchtung und verschwinden Sie hier im Haus. Geben Sie sich bei Astron mit dem Signal zu erkennen. Viel Glück – und brechen Sie mir nach Möglichkeit nicht den Schädel.«
»Sie sind…«, stotterte ich.
»Ja«, sagte er trocken. »Ich wünschte, ich hätte Ihr Signal nicht gesehen. Das wird mich zwei Streifen und eine Beförderung kosten. Los, vorwärts.«
Gesagt, getan. Er gab mir den Schlagstock, und ich versuchte, nicht zu schwach und nicht zu heftig zuzuschlagen.
Ich feuerte die Schrotladung ab und zerstörte die Straßenbeleuchtung; Passanten schrien auf. Es klang in der überdachten Straße wie Donner. Ich verschwand wie der Blitz hinter der weißen Tür von Astron, befand mich plötzlich im Dunkeln und stand einem schlanken, hageren Mann mit Spitzbart gegenüber.
»Was soll das denn?« fragte er. »Ich bin nur nach Vereinbarung zu sprechen…« Ich machte das Zeichen. »Auf der Flucht?« fragte er und seine professorale Zerstreutheit verschwand.
»Ja, beeilen Sie sich.«
Er führte mich durch sein Sprechzimmer in ein kleines, hohes Observatorium mit transparenter Kuppel, einem Refraktor, Hindu-Sternkarten, Uhren und Tischen. Einen dieser Tische hob er mit einem kräftigen Ruck hoch und klappte ihn an Scharnieren zurück. Darunter befand sich eine Öffnung. »Da hinunter«, sagte er.
Ich verschwand in der Dunkelheit.
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