Das also waren die gefürchteten Natschus! All dieses widersprüchliche Gewäsch – aber es war nicht ohne Reiz. Die Schrift war – ganz sicher unbewußt – so verfaßt, wie wir pharmazeutische Broschüren für Ärzte gestalten. Ruhig, gebildet, nach dem Motto: wir alle besitzen ein gesundes Urteilsvermögen und Bildung; wir können offen über grundlegende Meinungsverschiedenheiten sprechen.
Offensichtlich gab es zwei Möglichkeiten für mich. Ich konnte ins Hauptbüro gehen und Herrera anzeigen. Vielleicht verschaffte mir das sogar ein bißchen Publicity; man würde mich vielleicht anhören und mir soweit Glauben schenken, daß man meine Angaben überprüfte. Doch dann fiel mir ein, daß Menschen, die Natschus denunzierten, manchmal der Gehirnwäsche unterzogen werden, weil sie dem Virus ausgesetzt waren, und man befürchtet, nach der ersten gesunden Reaktion könne die Wirkung vielleicht später einsetzen. Das war kein guter Weg. Der zweite war riskanter, aber auch heldenhafter: ich konnte mich zum Schein auf das Spiel einlassen. Wenn ihre Organisation wirklich so weltweit war, wie sie behaupteten, gab es keinen Grund, warum ich nicht nach New York gelangen und ihnen später den Garaus machen sollte.
Ich zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß ich es schaffen würde. Es juckte mir in den Fingern, zu gern hätte ich das Formular redigiert, an den Sätzen gefeilt, die Langeweile verbannt und statt dessen Wörter mit präziser Wirkung eingesetzt. Es wäre nötig gewesen.
Die Kabinentür öffnete sich; meine zehn Minuten waren um.
Hastig spülte ich das Formular in den Abfluß und ging in den Tagesraum. Herrera war noch immer in Trance.
Ich wartete etwa zwanzig Minuten. Schließlich schüttelte er sich, blinzelte und blickte sich um. Er sah mich, sein Gesicht war ausdruckslos und steinern. Ich lächelte und nickte ihm zu, er kam zu mir herüber. »Alles in Ordnung, companero?« fragte er ruhig.
»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Du brauchst mir nur Bescheid zu sagen, wann, Gus.«
Die Tage schlichen dahin wie Wochen. Herrera sprach kaum mit mir, bis er mich eines Abends im Aufenthaltsraum unvermittelt fragte: »Hast du Gallina schon mal gesehen?« Das war Chicken Little. Ich sagte nein. »Dann komm herunter. Ich kann dich hereinlassen. Sie ist wirklich sehenswert.«
Wir durchquerten lange Gänge und sprangen auf das hinunterführende Frachtnetz. Ich schloß die Augen. Wenn man direkt hinunterblickt, wird es einem schwindelig. Vierzig, dreißig, zwanzig, zehn, null minus zehn.
»Abspringen, Jorge«, sagte Herrera. »Unter Minus Zehn liegt der Maschinenraum.« Ich sprang.
In Minus Zehn herrschte Dämmerlicht, Kondenswasser rann von den Betonwänden. Das Dach wurde von riesigen Pfeilern getragen.
Ein Gewirr von Rohren füllte den Gang, in dem wir abgesprungen waren. »Nahrungsflüssigkeit«, sagte Herrera.
Ich fragte nach dem offenbar ungeheuren Gewicht der Decke.
»Das ist Zement und Blei. Hält kosmische Strahlung ab. Manchmal kriegt eine Gallina Krebs.« Er spuckte aus. »Nicht eßbar. Muß alles verbrannt werden, wenn man nicht wirklich schnell ist und…« Er schwang sein glitzerndes Messer in blitzendem Bogen.
Er stieß eine Tür auf. »Das ist ihr Nest«, sagte er stolz. Ich warf einen Blick hinein und schluckte.
Die große Zementkuppel mit Betonfußboden wurde fast völlig von Chicken Little ausgefüllt. Es war eine graubraune, gummiartige Halbkugel von etwa fünfzehn Meter Durchmesser. Dutzende von Röhren führten in das pulsierende Fleisch. Man sah, daß sie lebte.
Herrera sagte zu mir: »Den ganzen Tag gehe ich um sie herum. Ich sehe, wie ein Teil schnell wächst, sieht es gut und zart aus, schneide ich es ab.« Wieder beschrieb sein zweischneidiges Messer einen blitzenden Bogen. Diesmal trennte es ein etwa zwei Zentimeter dickes Steak von Chicken Little ab. »Die Leute hinter mir zerschneiden es dann und legen es auf das Fließband.« An der Peripherie des Raumes befanden sich Tunnelöffnungen, in denen Fließbänder zu sehen waren.
»Wächst sie denn über Nacht nicht?«
»Nein. Man führt ihr nur ein Minimum an Nahrung zu, die Abfallprodukte stauen sich. Jede Nacht ist sie nahe daran zu sterben. Jeden Morgen wird sie aufs neue zum Leben erweckt wie der heilige Lazarus. Aber niemand kommt auf die Idee, für probrecita Gallina zu beten, was?« Er versetzte der Gummimasse mit der flachen Seite der Messerschneide einen liebevollen Hieb.
»Du magst sie wohl«, bemerkte ich einfallslos.
»Sicher, Jorge. Sie hilft mir.« Er blickte sich um, dann schritt er um das Nest herum und schaute in jede Tunnelöffnung, zog eine kurze Querstange hervor und drückte sie lässig gegen die Tür. Sie paßte genau zwischen den Türgriff und ein scheinbar zufälliges Loch in dem Zementfußboden. Das ganze gab ein gutes Schloß ab.
»Ich zeige dir den Trick«, sagte er mit seinem Azteken-Grinsen. Mit der geübten Geste eines Zauberers zog er eine Art Flötpfeife aus der Tasche, der offenbar das Mundstück fehlte. Statt dessen hatte sie einen Lufttank, der durch eine kleine Handpumpe gefüllt wurde. »Die habe ich nicht gemacht«, versicherte er mir hastig. »Das Ding ist eine Galtonpfeife, aber ich weiß nicht, wer dieser Galton ist. Paß auf und hör zu.«
Er betätigte die Pumpe und deutete mit der Pfeife direkt auf Chicken Little. Ich vernahm keinen Ton, aber es überlief mich kalt, als sich das gummiartige Protoplasma halbkreisförmig nach innen wölbte, als wolle es vor der Pfeife fliehen. »Hab keine Angst, companero«, beruhigte er mich. »Folge mir nur.«
Er pumpte stärker und reichte mir eine Taschenlampe, die ich benommen anknipste. Herrera blies Chicken Little seine lautlosen Töne entgegen. Es reagierte, indem es sich weiter zurückzog, aus der Höhle wurde schließlich ein überwölbter Gang auf dem Betonboden.
Herrera betrat den Gang und sagte: »Folge mir.« Ich gehorchte, während mein Herz angstvoll klopfte. Er ging unter ständigem Pumpen Schritt für Schritt voran, der Bogengang wurde zur Kuppel. Der Eingang hinter uns wurde kleiner, kleiner und kleiner…
Wir befanden uns nun in einer halbkugelförmigen Blase, bewegten uns langsam durch einen hundert Tonnen schweren Klumpen graubraunen Gummifleisches hindurch. »Leuchte auf den Boden, companero«, befahl er. Auf dem Zement waren Linien, die wie zufällig aussahen, aber Herrera richtete sich nach ihnen. Wir gingen langsam weiter, und ich überlegte, was wohl geschehen würde, wenn die Galtonpfeife kaputtginge…
Nachdem wir uns eine Ewigkeit lang Zentimeter um Zentimeter vorangeschoben hatten, fiel der Schein der Taschenlampe auf einen metallenen Halbmond. Herrera blies weiter, die Blase wölbte sich und der Halbmond wurde zur Scheibe. Noch immer pumpend, stampfte Herrera dreimal auf den Boden. Die Scheibe öffnete sich wie ein Lukendeckel. »Du zuerst«, sagte er, und ich tauchte hinunter, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ob ich nun hart oder weich landen würde. Es war eine weiche Landung; schaudernd blieb ich liegen. Einen Augenblick später landete Herrera neben mir, und die Luke über uns schloß sich. Er stand auf und massierte seinen Arm. »Harte Arbeit«, sagte er. »Ich pumpe und pumpe und höre nichts. Eines Tages wird es nicht mehr funktionieren, und ich merke es erst, wenn…« Wieder grinste er.
»George Groby«, stellte Herrera mich vor. »Das hier ist Ronnie Bowen.« Bowen war ein kleiner, phlegmatischer Verbraucher, dessen Kleidung erkennen ließ, daß er im Zentralbüro arbeitete. »Und das ist Arturo Denzer.« Denzer war sehr jung und sehr nervös.
Wir befanden uns in einem gutbeleuchteten kleinen Betonbüro mit Luftregeneratoren, Schreibtischen und Kommunikationsvorrichtungen.
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