»Mr. Littlejohn?« Liza ließ sich durch nichts mehr überraschen, was der Gründer sagte oder tat. »Hier ist das Labor. Wir brauchen Ihre Genehmigung, Sir, ehe wir einen Chrononauten als Versuchsperson verwenden.«
»Einen Chrononauten, Miß Simmons? Wann soll das Experiment denn stattfinden?«
»Um fünfzehn Uhr, Sir.« Keine Sicherheitsreserven mehr. Angst, daß er vielleicht das – Ende nicht mehr erlebte. »Der Professor hat das Experiment eine Stunde nach Beendigung Ihrer Quarantäneperiode eingeplant. Sie werden natürlich dabeisein wollen, Sir.«
»Natürlich, mein Kind, natürlich. Ich werde Ihnen die nötige Vollmacht sofort hinüberschicken.« Ihre Worte waren so formell gewesen, daß er einen Moment lang eine Beklemmung spürte. Sie war doch sonst nicht so – hoffentlich hatte er nicht in der elften Stunde noch Schwierigkeiten mit ihr und ihrem Gewissen. »Und, Miß Simmons, meine höchste Anerkennung. Alle Bewohner dieses Dorfes haben Ihnen außerordentlich viel zu verdanken. Ihr Pflichteifer und unermüdliches Wirken, uns unserem erhofften Ziel näherzubringen, waren beispielhaft.« Er fragte sich, ob das nicht schon reichte. Sie war schließlich eine feinfühlige Person. Es war so leicht, bei Intellektuellen die Schraube zu überdrehen. »Geben Sie mir jetzt bitte den Professor. Ich möchte ihm ebenfalls gratulieren. Eine großartige Leistung. Großartig …«
Die Vollmacht, die von Manny Littlejohn unterschrieben und von David Silberstein und Professor Krawschensky gegengezeichnet war, wurde den angetretenen Chrononauten von dem Stellvertreter des verstorbenen Sir Edwin, also vom Dorfpsychiater, vorgelesen. Während sein Vorgänger und ehemaliger Vorgesetzter mit instinktivem Gespür für passende Gelegenheiten gehandelt hätte, machte das der Dorfpsychiater aus psychologischen Erwägungen. Schließlich war jetzt der Höhepunkt einer zweijährigen, intensiven Vorbereitungszeit gekommen, und dieser Höhepunkt verlangte nach einem Paukenschlag, nicht nur nach einem Zungenschlag. Die Chrononauten nahmen die Neuigkeit mit einem halblauten Hurra auf, mit echter, disziplinierter und temperierter Begeisterung. Dann marschierten sie in die Unterkunft, um das Los zu ziehen.
Dort stand eine Maschine bereit, die extra für diesen Moment angeschafft worden war. Wenn man die Maschine in Gang setzte (sie war noch versiegelt), spuckte sie eine kleine goldene Uhr aus, auf der das Datum und der Name eines jeden Chrononauten aufgeprägt war. Das war ein passendes Andenken und ein persönlicher Einfall des Gründers. Wirklich schade, daß er der Ziehung nicht beiwohnen konnte. Wenn jeder Chrononaut im Besitz seiner Uhr war, wurden die hinteren Deckel der Uhren geöffnet. Und auf diesem Deckel stand dann auf der Innenseite, daß der Träger dieser Uhr die Ehre hatte, der erste (zweite, dritte, vierte und so weiter bis der zwölfte) Mensch zu sein, der in die chronomische Einheit eingehen durfte. Die Reihenfolge war nach wissenschaftlichen Zufallsfaktoren festgelegt worden. Und das Los für die erste »Zeitreise« wurde von einer Chrononautin gezogen, von Rachel Moser.
Die anderen drängten sich um sie herum zeigten die von ihnen erwartete Kameradschaft, hinter der sich die erwartete Eifersucht versteckte und dahinter vielleicht auch noch die erwartete Erleichterung. Ihre Geschlechtsgenossinnen beherrschten dieses Spiel natürlich viel besser als ihre männlichen Kollegen. – »Wie wunderbar für dich, Darling! Und was wirst du für diese Reise anziehen?«
»Du solltest dein rotes Kleid anziehen, Rachel. Du weißt ja, wie gut es dir steht.«
»Und es ist so schlicht. Ganz recht – trage dein rotes Kleid. Man soll sich lieber bescheiden geben, bis man weiß, wie es um die Zukunft bestellt ist. Besser, wenn die Leute deinen Geschmack für altmodisch halten, als sich darüber aufzuregen, wie shocking du bist!«
Einen Moment lang stand Rachel verträumt da, die Hände auf den nackten Hüften, und träumte davon, daß sie die Zukunft in ihrem roten Kleid eroberte. Doch dann riß sie sich wieder zusammen.
»Unsinn«, sagte sie, »die ersten Zeitreisen werden doch nur zwei oder drei Minuten dauern. Dafür braucht man gar nichts anzuziehen.«
»Trotzdem würde ich an deiner Stelle das Rote tragen, und wenn auch nur dem armen alten Krawschensky zuliebe.«
Sie kicherten über diese respektlose Bemerkung und schielten rasch zu dem Dorfpsychiater hinüber. Das war echter Sportsgeist. Und trotz der gewaltigen Bildung waren sie doch alle typisch weiblich geblieben. Der Dorfpsychiater trat vor. Es standen immer noch die abschließenden Tests aus (körperliche und geistige). Er nahm artig ihren Arm und führte sie in die Testräume. Ihre Kolleginnen und Kollegen winkten und klatschten.
Obgleich Gefühle bei Roses’ Erziehung und in seinen reiferen Jahren kaum eine Rolle gespielt hatten, war Roses doch entschieden sentimental. Und obwohl die Gerechtigkeit in seinem Leben nie Hilfestellung geleistet hatte, war der Glaube an sie in ihm fest verwurzelt. Als er deshalb die Katze, die ihm so wütend die Krallen über Arme und Beine gezogen hatte, tot in den Brennesseln hinter der Hoftüre fand, geriet er in einen ernsthaften Gefühlskonflikt. »Armes, kleines Biest«, stritt er sich, »das geschieht dir recht, du Teufel.«
Ein paar Minuten lang rangen beide Gefühlsregungen miteinander.
»Geschieht dir recht« gewann schließlich die Oberhand. Die Katze war ein undankbarer Bastard, hatte gekratzt und gefaucht, nachdem er sie aus den Händen des verrückten alten Professors gerettet hatte. Sonst hätte sie vielleicht am Ende noch auf der Bühne gelegen wie damals der gescheckte Hund … Dieser Gedanke führte nach einiger Zeit zu einer Generalverdammung des Professors und seiner Tätigkeit im Labor. Alles, was der Professor anfaßte, starb. Er wußte es. Er hatte es selbst gesehen. Er trat mit den Zehen auf das kalte Fell. Wenigstens schien hier noch alles an dem Platz zu sein, wohin es gehörte. Nicht so wie bei dem gescheckten Hund.
In diesem Moment griff ein neuer Gedanke in den Wettkampf der Gefühle ein. Bis jetzt waren die Dinge in Roses’ Leben einfach gestorben. Es gab keinen Grund dafür. Er hatte auch nie nach Gründen gesucht. Sie starben eben. (Nur sein Vater hatte sich natürlich im Wald selbst umgebracht.) Doch hier lag der Fall anders. Alle Dinge, mit denen Professor Krawschensky sich befaßte, starben. Sie starben nicht einfach, sie starben, weil Professor Krawschensky mit ihnen zu tun gehabt hatte. Und Professor Krawschensky hatte auch den alten schwarzen Kater in den Fingern gehabt. Roses hob die tote Katze auf, trug sie in die Küche und legte sie auf den Küchentisch.
Er setzte sich vor die tote Katze und starrte sie lange an. Er blickte ihr in die offenen, toten, milchigen Augen und berührte hin und wieder das platte Fell. Es war die Schuld des Professors. Natürlich war es seine Schuld. Fragte sich nur, was er, Roses, daran ändern konnte.
»Das ist eine ganz besonders günstige Nachricht in Anbetracht der neuen Verfügung der Regierung«, sagte David Silberstein zu Professor Krawschensky, als er ihn kurz vor der Mittagspause in seinem Labor besuchte. »Mit Glück und Geschick werden wir sie noch ein paar Tage hinhalten können – lange genug, daß jeder in die Zukunft auswandern kann, der auszuwandern wünscht.«
Er sprach nur darüber, weil er eine passende Überleitung brauchte, um dann den Professor beiseite zu nehmen und ihm die Fragen zu stellen, die ihn wirklich interessierten. Der alte Mann starrte ihn betroffen an.
»Verfügung der Regierung? Was für eine Verfügung?«
»Oh – ich dachte, der Gründer hätte Sie bereits davon unterrichtet.«
»Nicht mit einer Silbe!«
»Wir werden dazu gezwungen, das Dorf aufzulösen. Nicht nur wir – alle Forschungsstätten. Es ist ein Versuch, die Öffentlichkeit zu besänftigen. Forschung ist seit dem Ausbruch der Cholera-Seuche ein schmutziges Wort geworden. Das ist natürlich alles auf die Hetzreden dieser Mrs. Lampton zurückzuführen.« Er lächelte nervös. Jeder, der auswandern wollte, konnte auswandern … Stimmte das? Wollte er wirklich in die Zukunft verreisen, wenn es von dort kein Zurück mehr gab? »Ich habe gehört, daß man sogar eine Fabrik in Sussex geschlossen hat, die ein Impfserum gegen den mutierten Erreger dieser Seuche entwickelt. Mag was dran sein. Auf jeden Fall traue ich dieser Dame alles zu.«
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