Hinter dem Maschengitter ließ Mrs. Kops den Zeigefinger an den Fächern entlanggleiten.
»Ich glaube, ein Brief von Ihrem Onkel …« Sie fand den Brief, hielt ihn aber so, daß Liz ihn nicht gleich zu fassen bekam. »Schlechte Nachrichten, meine Liebe. Ihr Vater hat wieder mal Schwierigkeiten mit seinen Studenten. Ihre Mutter hat wieder einen Abtreibungsbefehl von der Gemeinde bekommen. Ihr Bruder wurde wegen Trunkenheit und anstößigen Benehmens in der Öffentlichkeit bestraft. Und außerdem liegt ein Stillegungsbefehl für Ihren Wagen vor, weil Sie noch keine neue Straßenfläche zugeteilt bekommen haben.« Mrs. Kops verschränkte die Arme vor der Brust, ihre schlaffen Brüste stützend. »Kurz«, fuhr sie tadelnd fort, »es ist ein Brief, den wir normalerweise nicht durchgehen lassen würden, wenn Sie nicht zu den Empfängern gehörten, die selten zur Panik neigen.«
»Ich habe es schon vor Jahren aufgegeben, mich wegen meiner Eltern aufzuregen.« Das gehörte zu den Loyalitätspflichten von Liza, und sie glaubte wirklich, was sie da sagte. Nachdem ihr Vater lange vergeblich versucht hatte, sie unter seinem Dach zu behalten, hatte er ihre Koffer aus dem obersten Stockwerk auf die Straße hinuntergeworfen. Und da sie damals zu jung gewesen war, diesem Akt eine komische Seite abzugewinnen, hatte sie das als Zeichen ihrer unwiderruflichen Trennung aufgefaßt. »Sie sind so verbohrt kurzsichtig … Sie hätten ohne weiteres mit mir hierherziehen können. In der Schule war eine Stelle frei. Mein Vater hätte sie übernehmen können. Er wollte natürlich nicht. Deshalb …«
Liza zuckte die Achseln, die typische aufgeklärte, fortschrittliche Person, die ihre Eltern kritisch wertete. Mrs. Kops betrachtete sie scharf und ließ sich täuschen.
»Wir alle haben Angehörige in der Außenwelt, meine Liebe.« Sie saugte an ihren falschen Zähnen. Weiß der Teufel, wo Littlejohn diese Person aufgegabelt hatte. »Doch wir sind nicht alle in diesem Punkt so vernünftig wie Sie, Kleine.«
Diese Herablassung war das Äußerste, was sie an Tadel wagte. Denn der Gründer hielt streng darauf, daß seine Angestellten einen klaren Trennungsstrich zwischen sich und der Außenwelt zogen. Sie beugte sich vor. Sie war neugierig, genoß sie mit fast sadistischer Wollust.
»Ihr Onkel Wal schreibt auch noch von einem anderen Bruder. Er wohnt auch in London. Ist das Ihr Onkel Mortimer? Wenn ich mich nicht täusche, hat er doch die Tochter von einem Architekten geheiratet und ist nach Kanada gegangen. Und jetzt ist er wieder in London. Hoffentlich ist da nichts mit seiner Ehe schiefgegangen. In der heutigen Zeit nimmt man das ja nicht mehr so wichtig …«
»Seine Ehe ist in Ordnung, Mrs. Kops. Er ist in London im Auftrag einer Studienstiftung, um das Entwicklungsprojekt bei den Hebriden zu studieren. Fischzucht außerhalb der verseuchten Wassergebiete. Vielleicht haben Sie schon mal davon gelesen, Mrs. Kops.«
»Hoffentlich hat er auch Kinder«, meinte Mrs. Kops, obwohl sie beruflich nichts mit Hoffnungen oder Glück zu tun hatte. »Die kanadische Regierung hat ja keine Geburtenbeschränkung verordnet, wenn ich mich nicht täusche.«
»Hübsche Kinder und gesund, Mrs. Kops. Kann ich jetzt bitte meinen Brief haben?«
»Es ist eine schreckliche Welt, in der wir leben, Liza.«
»Es ist eine schreckliche Welt, Mrs. Kops.«
»Wir können Gott danken, daß wir den Gründer haben, sage ich immer.« – »Da haben Sie wirklich recht, Mrs. Kops.«
Die Konversation plätscherte weiter. Das Mädchen beunruhigte Mrs. Kops irgendwie. Irgend etwas mußte ja an ihr dran sein – schließlich war sie ja Assistentin von dem berühmten Professor und dabei noch Mitte Zwanzig –, aber was das war, hatte Mrs. Kops bisher noch nicht herausfinden können.
»Sie werden ja Ihren Brief jetzt endlich lesen wollen!« Mrs. Kops rückte ihr Pfand heraus. »Aber was wird Ihr Vater jetzt tun, meine Liebe? Noch mehr Schwierigkeiten, und man wird ihm Berufsverbot geben. Dann kommt er in eine Wohnung unter Sicherheitsüberwachung. Das wird ihm bestimmt nicht gefallen, oder?«
Liza schloß die Tür der Poststelle höflich und leise hinter sich. Sie blieb einen Augenblick stehen, betäubt von der Helligkeit und der Hitze.
»Ich habe keine Ahnung«, dachte sie laut, »was mein Vater tun wird.«
Roses Varco saß immer noch am Rande des Kais und angelte. Der Mehlsack, in dem er seinen Fang gewöhnlich unterbrachte, lag leer auf den Steinen neben ihm. Liza wurde auf Roses aufmerksam, als sie schon in den Weg zum Laboratorium einbiegen wollte. Zum zweitenmal setzte sie jetzt den Stuhl und die Rolle mit dem Filtermaterial ab. Ruhig, sanft und losgelöst von seiner Umgebung saß er da. Alles drei Attribute der Weisheit. Sie runzelte die Stirn. Ein sentimentaler, unvernünftiger Einfall, Weisheit bei einem Dorftrottel zu vermuten. Trotzdem ließ sie den Stuhl im Garten des Laboratoriums zurück und ging bis zum vorderen Rand des Kais. Sie setzte sich neben Roses, wie David Silberstein das schon ein paar Stunden vor ihr getan hatte. Wie das viele im Dorf taten. Der ungeöffnete Brief ihres Onkels raschelte in der Kitteltasche.
»Ist der Vater tot. Roses?«
»Ja.« Einleitungsphrasen waren bei Roses überflüssig.
»Wann starb er?«
»Hat sich ins Bein gehackt. Oben im Wald.«
»Schon vor langer Zeit?«
Es spielte eigentlich keine Rolle. Für sie beide nicht. Aber sie mußte ja etwas als Antwort von ihm fordern.
»Starb wie ein Fuchs in der Falle. Ich lege nie Fallen aus. Nicht die, die zuschnappen.«
»Warst du noch ein Kind, als er starb?«
»’ne Falle ist schon in Ordnung, wenn sie richtig aufgestellt ist. Ein Schnapper, und es ist hin.« Ihm fiel wieder ein, daß sie etwas von ihm wissen wollte, und er drehte ihr das Gesicht zu. »Hat mir einen Kalender hinterlassen, mein Vater. Den Buckingham-Palast.«
Darauf wußte Liz keine Antwort. Sie lächelte freundlich. War der Kalender seine Selbstbehauptung, von der Daniel gesprochen hatte? Wahrscheinlich nicht. Triumph war ein Begriff, der Roses vollkommen fremd war. Eine Schwanenfamilie steuerte lautlos um die Biegung des Flusses und bewegte sich unter den tief herabhängenden Zweigen der Uferbäume. Roses würde diese Familie als Selbstverständlichkeit hinnehmen, doch sie konnte nur leben, nachdem man den Fluß entseucht hatte. Ein Projekt, das mehrere Millionen Pfund gekostet hatte. Die Vorstellung, daß die Weisheit aus dem Mund der Kinder kam, war so töricht wie sentimental. Doch sie ließ nicht locker, obwohl sie nicht wußte, was sie eigentlich Positives von ihm erwartete.
»Nimm einmal an, dein Vater wäre noch am Leben, Roses. Nimm weiter an, er lebte weit weg von hier. Stell dir vor, er wäre in Schwierigkeiten. Was würdest du tun?«
Er schwieg so lange, daß sie glaubte, er habe ihre Frage vergessen. Nicht daß seine Antwort wichtig gewesen wäre. Einer der Schwäne schwamm jetzt unter den Zweigen hervor und bewegte schwirrend die Flügel.
»Was für Schwierigkeiten?«
»Ich weiß nicht …« Es tat ihr jetzt leid, daß sie gefragt hatte. »Schwierigkeiten mit dem Gesetz vielleicht.«
»Das ist leicht. Was ist denn das Gesetz, eh? Polizisten, Quälgeister. Und ein Haufen alte Bestimmungen. Plunder.«
»Sie können ihn aber ins Gefängnis stecken, Roses.«
»Ah …« Die Tragweite dieser Vorstellung machte ihn kleinlaut. »Hm – das ist natürlich etwas ganz anderes.«
Er verfiel wieder in Schweigen – ein Schweigen, das diesmal endgültig zu sein schien. Wo blieb also die Weisheit? Ihr Fehler war, daß sie Geheimnis und Weisheit gleichgesetzt hatte. Doch auch ohne Weisheit war das Geheimnisvolle an ihm fesselnd. Besonders fesselnd – sie konnte diesen Gedankengängen gar nicht ausweichen – war seine Männlichkeit. Nicht, weil sie bekleidet war. Nicht, weil sie tabu schien oder unerzogen oder wahrscheinlich trotz seiner achtunddreißig Jahre noch unberührt war. Nein, seine Männlichkeit war interessant wegen ihrer … sie zögerte, als sich ihr das Wort aufdrängte, weil sie über die scheinbare Widersprüchlichkeit betroffen war … wegen ihrer Stärke. Ihrer Gewaltsamkeit. Sie suchte nach Erklärungen für ihre Begriffswahl und fand keine.
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