»Ich hätte eigentlich gedacht, daß mit der Zertrümmerung der Kuppel das Ende gekommen wäre«, sagte ich. »Können die Menschen denn nicht erkennen — ich meine, wofür soll man danach überhaupt noch kämpfen?«
»Sie meinen, daß der Krieg danach hätte zu Ende sein müssen? O nein. Es hat wohl für eine gewisse Zeit das Leben in der Stadt beendet. Unsere Leute haben schrecklich viel abbekommen. Aber es gibt natürlich noch die Bunker — von ihnen aus wird der Krieg jetzt geführt, und dort befinden sich auch die meisten Munitionsfabriken und dergleichen. Ich glaube nicht, daß dies unbedingt ein Jahrhundert für Städte ist.«
Ich dachte an das zurück, was ich an Barbarei in der Landschaft außerhalb der Londoner Kuppel gesehen hatte, und ich versuchte mir ein ständiges Leben in einem unterirdischen Luftschutzbunker vorzustellen — vor meinem geistigen Auge erschienen Szenarien von hohläugigen und leichenblassen Kindern, die durch dunkle Tunnel streunten, und von einer Bevölkerung, die vor lauter Furcht der Selbstaufgabe und Barbarei nahe war.
»Und was ist mit dem Krieg selbst?« fragte ich. »Die Fronten — eure große Belagerung von Europa…«
Bond zuckte die Achseln. »Nun, die Schwätzmaschinen erzählen viel von großen Erfolgen, die hier und da eingetreten sein sollen: Ein Letzter Vorstoß — so etwas in der Art.« Sie senkte die Lautstärke ihrer Stimme. »Aber — und wir können das ruhig hier erörtern — auch bei Nachteinsätzen, im Schein der Explosionen, sehen die Flugzeugbesatzungen einen Teil von Europa, wissen Sie, und es spricht sich ja auch herum. Ich glaube jedenfalls nicht, daß sich diese Stellungen seit 1935 auch nur einen Zoll im Schlamm verschoben haben. Wir stecken fest.«
»Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wofür ihr überhaupt noch kämpft. Die Länder sind doch alle schon mehr oder weniger zerschlagen, industriell und wirtschaftlich. Ich glaube kaum, daß von einem noch eine Bedrohung für die anderen ausgehen kann; und es können auch keine Aktiva mehr existieren, die zu erbeuten sich lohnen würde.«
»Vielleicht stimmt das«, gab sie zu. »Ich glaube nicht, daß Großbritannien noch so stark ist, das zerstörte Land wieder aufzubauen, wenn der Krieg erst einmal vorbei ist. Wir werden für lange Zeit keine Eroberungsfeldzüge mehr durchführen können! Und angesichts der jetzigen Pattsituation müssen sich die Dinge aus der Sicht Berlins ähnlich darstellen.«
»Warum dann noch weitermachen?«
»Weil wir es uns nicht leisten können, aufzuhören.« Unter der Bräune, die sie in diesem urzeitlichen Paläozän erworben hatte, erkannte ich noch Spuren von Bonds alter, erschöpfter Blässe. »Es kursieren alle möglichen Berichte — soweit ich das beurteilen kann, sind manche nur Gerüchte, manche schon substantieller — von technischen Entwicklungen der Deutschen…«
»Technische Entwicklungen? Sie meinen wohl Waffen.«
Darauf blieb sie mir die Antwort schuldig.
Wir entfernten uns vom Wald und näherten uns dem Strand. Die heiße Luft brannte in meinem Gesicht, und wir ließen die Absätze unserer Stiefel vom Wasser umspülen.
Ich versuchte mir das Europa von 1944 vorzustellen: die zerstörten Städte, und, von Holland bis zu den Alpen, Millionen von kriechenden und liegenden Menschen, die einander irreparablen Schaden zuzufügen versuchten… In diesem tropischen Frieden schien das alles so absurd — ein Fiebertraum!
»Aber was sollte wohl noch entwickelt werden«, wandte ich ein, »das noch mehr Schaden als den ohnehin schon verursachten anrichten könnte?«
»Man spricht von Bomben. Eine neue Art — stärker als alles bisher Dagewesene… Mit Carolinum gefüllte Bomben, heißt es.« Ich erinnerte mich an Wallis' diesbezügliche Spekulationen von 1938. »Und dann gibt es natürlich noch«, ergänzte Bond, »die Zeitverschiebungs-Kriegsführung.
Sie sehen ein, daß wir den Kampf nicht einstellen können, wenn die Deutschen dadurch ein Monopol auf eine solche Waffe bekämen.« In ihrer Stimme schwang ein Unterton ruhiger Verzweiflung mit. »Das begreifen Sie doch, oder? Deshalb auch diese hektischen Bemühungen, Atomreaktoren zu bauen, Carolinum zu gewinnen und mehr Plattnerit zu erzeugen… deshalb sind auch solche Mittel und Ressourcen in diese zeitreisefähigen Großkampffahrzeuge investiert worden.«
»Und alles nur, um einen Sprung in die Vergangenheit zu machen und den Deutschen zuvorzukommen? Sie zu vernichten, bevor sie die Gelegenheit erhalten, euch zu vernichten?«
Sie schob das Kinn vor und setzte einen trotzigen Blick auf. »Oder den Schaden zu beheben, den sie anrichten. So kann man es nämlich auch betrachten, stimmt's? Wir haben unseren Plattnerit-Detektor…«
Mit diesem Instrument pirschte die Zeitexpedition zurück in die Vergangenheit und spähte in den flackernd verstreichenden Tagen nach Spuren von Nebogipfel und mir bzw. anderen, übleren Zeitreisenden.
Ich ersparte mir, was Nebogipfel sicher nicht getan hätte, einen Kommentar zu der letztendlichen Sinnlosigkeit dieser Suche; denn es war klar, daß die Philosophen des Jahres 1944 im Gegensatz zu mir, der ich den Morlock als Mentor gehabt hatte, noch nichts von dem Konzept der Multiplizität der Geschichte wußten.
»Doch selbst in diesem Fall«, entgegnete ich, »ist die Vergangenheit ein weiträumiger Ort. Wie konntet ihr wissen, daß es uns hierher verschlagen würde — wie konntet ihr hier bei uns landen, mit dieser absoluten Präzision?«
»Wir hatten Hinweise«, erklärte sie.
»Welche Art von Hinweisen? Sie meinen die im Imperial zurückgebliebenen Trümmer?«
»Zum Teil. Aber auch archäologische Spuren.«
»Archäologische? «
Sie schaute mich recht verschmitzt an. »Schauen Sie. Ich weiß nicht, ob Sie das jetzt hören wollen…«
Das weckte natürlich erst recht meine Neugier! Ich bestand darauf, daß sie es mir erzählte.
»Sehr gut. Sie — die Eierköpfe — kannten die ungefähre Position, von der aus Sie in die Vergangenheit aufgebrochen waren — auf dem Campus des Imperial College natürlich — und so begannen sie eine intensive archäologische Untersuchung des Areals. Ausgrabungen wurden durchgeführt…«
»Gütiger Himmel«, sagte ich. »Ihr habt nach meinen versteinerten Knochen gesucht!«
»Und denen von Nebogipfel. Man ging davon aus, daß wir euch beim Auftreten irgendwelcher Anomalien — Knochen oder Werkzeuge — anhand euer Lage in der jeweiligen Schicht ziemlich genau lokalisieren könnten…«
»Und seid ihr fündig geworden? Hilary…« Sie wollte sich wieder nicht äußern, und ich mußte auf einer Antwort bestehen.
»Sie haben einen Schädel gefunden.«
»Menschlich?«
»So in etwa.« Sie zögerte. »Klein und ziemlich deformiert — in einer Schicht, die fünfzig Millionen Jahre zu alt war, als daß dort irgendwelche menschliche Überreste hätten sein dürfen — und sauber in zwei Hälften getrennt.«
Klein und deformiert — das konnte nur Nebogipfel gewesen sein! Konnte das aus seiner Begegnung mit dem Pristichampus resultieren — aber in einer anderen Geschichte, in der Gibson nicht interveniert hatte?
Und befanden sich meine Knochen vielleicht, zermalmt und versteinert, in einer benachbarten, unentdeckten Lagerstelle?
Mich fröstelte, trotz der Sonnenhitze auf Rücken und Kopf. Plötzlich schien diese paradiesische Welt des Paläozäns zu verschwimmen — ein transparenter Schemen, durch den das gnadenlose Licht der Zeit fiel.
»Dann haben Sie also Spuren von Plattnerit gefunden, und uns gleich dazu«, resümierte ich. »Aber ich kann mir vorstellen, daß Sie enttäuscht waren, nur mich zu finden — schon wieder! — und keine Horde kriegerischer Preußen. Aber — schauen Sie — können Sie denn nicht erkennen, daß hier eine gewisse Paradoxie vorliegt?
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