»Nein, Paps«, sagte Janine. »Hör mir zu. Ihr habt alle von unserer Pflicht geredet, der Welt zu helfen – die Menschen zu ernähren, ihnen neue Dinge zu bringen, damit sie ein besseres Leben führen können. Wollen wir denn nicht unsere Pflicht tun?«
Er fuhr wütend herum.
»Was verstehst du schon von Pflicht, du dummes Ding? Ohne mich würdest du in Chicago in der Gosse sitzen und auf das Geld von der Sozialfürsorge warten. Wir müssen auch an uns selbst denken.«
Sie hätte geantwortet, aber Wan glotzte mit großen, erschreckten Augen, sodass sie stumm blieb.
»Ich hasse das!«, erklärte sie. »Wan und ich machen einen Spaziergang, damit wir euch nicht sehen müssen!«
»Im Grunde ist er gar kein übler Mensch«, sagte sie zu Wan, als die anderen sie nicht mehr hören konnten.
Streitende Stimmen hatten sie verfolgt, und Wan, der mit Meinungsverschiedenheiten wenig Erfahrung hatte, war offensichtlich völlig durcheinander.
Wan ging nicht direkt darauf ein. Er zeigte auf eine Wölbung in der blau leuchtenden Wand.
»Das ist eine Stelle für Wasser«, sagte er, »aber eine tote. Es gibt Dutzende davon, doch sie sind fast alle tot.«
Aus Pflichtgefühl besichtigte Janine die Stelle und richtete die Handkamera darauf, während er die runde Abdeckung entfernte und wieder anbrachte. An der Oberseite gab es einen nasenartigen Vorsprung, unten einen Abfluss; das Ganze war fast so groß, dass man hineinsteigen konnte, aber knochentrocken.
»Du hast gesagt, eine solche Anlage funktioniere noch, aber das Wasser sei nicht trinkbar?«
»Ja, Janine. Soll ich sie dir zeigen?«
»Ja, ich denke schon.« Sie fügte hinzu: »Lass dich von denen nur nicht aufregen. Sie werden eben immer gleich wild.«
»Ja, Janine.« Aber in einer gesprächigen Stimmung war er nicht.
»Als ich klein war, hat er mir Geschichten erzählt«, fuhr sie fort. »Die meisten machten einem Angst, aber manche auch nicht. Er erzählte mir vom Schwarzen Peter, der, soviel ich herausbekommen habe, eine Art Weihnachtsmann gewesen ist. Er sagte, wenn ich brav sei, bringe mir der Schwarze Peter zu Weihnachten eine Puppe, aber wenn nicht, würde ich ein Stück Kohle von ihm bekommen. Oder etwas noch Schlimmeres. So habe ich Papa dann immer genannt – Schwarzer Peter. Aber einen Klumpen Kohle hat er mir nie gegeben.«
Er lauschte aufmerksam, während sie durch den leuchtenden Korridor gingen, antwortete aber nicht. »Dann starb meine Mutter«, fuhr sie fort, »und Paul und Lurvy heirateten, und ich zog für eine Weile zu ihnen. Aber Paps war wirklich nicht so übel. Er besuchte mich, sooft er konnte – denke ich. Wan! Verstehst du überhaupt, was ich zu dir sage?«
»Nein«, erwiderte er. »Was ist ein Weihnachtsmann?«
»O Wan!«
Sie erklärte ihm also den Weihnachtsmann und Weihnachten und musste dann Winter und Schnee und Geschenke erklären. Sein Gesicht glättete sich, er begann zu lächeln, und seltsamerweise wurde Janines Stimmung um so gedrückter, je mehr sich die von Wan hob. Bei dem Versuch, Wan die Welt zu erklären, in der sie lebte, wurde sie gezwungen, sich mit der Welt auseinander zu setzen, die vor ihr lag. Es ist doch beinahe besser zu tun, was Peter vorgeschlagen hatte, dachte sie, einfach aufzugeben und ins wirkliche Leben zurückzukehren. Alle Alternativen waren Angst erregend. Sie befanden sich in einem künstlichen Gebilde, das unbeirrbar durch den Weltraum flog, einem unbekannten Ziel entgegen. Und wenn es dort ankam? Wovor würden sie stehen? Oder wenn sie mit Wan zurückflogen, was würde sie dort erwarten? Hitschi? Hitschi! Hier brach die Angst erst auf. Janine hatte ihr ganzes junges Leben im Schatten der Hitschi verbracht – Furcht erregend, weniger wirklich als mythisch. Wie der Schwarze Peter oder der Weihnachtsmann. Wie Gott. Alle Mythen und Gottheiten sind erträglich, was den Glauben an sie betrifft – aber was, wenn sie Wirklichkeit werden?
Sie wusste, dass ihre Familie sich nicht weniger fürchtete als sie, obwohl das ihren Worten nicht zu entnehmen war – sie gaben ihr ein Beispiel an Mut. Sie konnte nur vermuten. Sie nahm an, dass Paul und ihre Schwester Angst hatten, sich aber entschlossen hatten, alles auf eine Karte zu setzen und zu hoffen, dass alles gut ging. Ihre eigene Angst war eine ganz besondere – weniger Angst vor dem, was geschehen mochte, als davor, wie sie reagieren mochte, wenn es geschah. Was ihr Vater empfand, war allen klar. Er war zornig und angstvoll, und wovor er sich fürchtete, war, zu sterben, bevor er sich für seinen Mut hatte bezahlen lassen.
Und was fühlte Wan? Er wirkte so unkompliziert, während er sie in seinem Reich herumführte, wie ein Kind, das ein anderes an den Schätzen seiner Spielzeugtruhe teilhaben lässt. Janine wusste es besser. Wenn sie in ihren vierzehn Jahren etwas gelernt hatte, dann das eine, dass niemand unkompliziert war. Wans Komplikationen waren lediglich nicht dieselben wie ihre, was sie sofort erkannt hatte, als er ihr die Wasseranlage zeigte, die noch funktionierte. Er hatte das Wasser nicht trinken können, die Anlage aber als Toilette benützt. Janine, in der westlichen Welt aufgewachsen, in der man so tat, als gäbe es die Ausscheidung nicht, hätte Wan nie an solch einen Ort geführt, aber er zeigte keine Spur von Verlegenheit. Sie konnte ihn auch nicht in Verlegenheit bringen.
»Irgendwo musste ich hingehen«, sagte er mürrisch, als sie ihn dafür rügte, dass er nicht wie alle anderen die sanitären Anlagen des Schiffes benutzt hatte.
»Ja, aber wenn du es richtig gemacht hättest, wäre Vera gleich drauf gekommen, dass du krank bist, verstehst du? Sie analysiert immer unser, äh, Zeug aus dem Badezimmer.«
Er bewegte unbehaglich die Schultern.
»Wenn die Toten Menschen mich untersuchen, stecken sie immer etwas in mich hinein. Das mag ich nicht.«
»Das ist nur zu deinem Besten, Wan«, erklärte sie streng. »He! Das ist eine Idee. Reden wir mit den Toten Menschen.«
Hier kam Janines eigene Kompliziertheit zum Ausdruck. Sie wollte im Grunde gar nicht mit den Toten Menschen reden. Sie wollte nur fort von dem peinlichen Ort, an dem sie sich befanden, aber bis sie sich dorthin gehangelt hatten, wo die Toten Menschen waren, die Stelle, wo auch Wans Traumliege stand, war Janine etwas anderes eingefallen.
»Wan«, sagte sie, »ich möchte die Liege ausprobieren.«
Er legte den Kopf zurück und kniff die Augen zusammen, während er sie an seiner langen Nase entlang prüfend anstarrte.
»Lurvy hat gesagt, ich darf das nicht mehr tun«, erklärte er.
»Das weiß ich. Wie komme ich hinein?«
»Zuerst erklärt ihr mir, ich muss tun, was ihr sagt«, beklagte er sich, »und dann erzählt mir jeder etwas anderes. Das bringt einen ganz durcheinander.«
Sie war schon in den Kokon geschlüpft und hatte sich ausgestreckt.
»Ziehe ich das Oberteil einfach über mich?«
»Ach«, sagte er achselzuckend, »wenn du dich schon entschlossen hast – ja. Wenn du heraus willst, drückst du einfach dagegen.«
Sie griff nach dem Gurtdeckel und zog ihn zu sich herab, während sie auf sein schmollendes, besorgtes Gesicht blickte.
»Tut es … weh?«
»Weh? Nein! Was für eine Vorstellung!«
»Wie ist es dann?«
»Janine«, sagte er streng, »du bist sehr kindisch. Warum stellst du Fragen, wenn du es selber erleben kannst?« Und er drückte den glänzenden Drahtdeckel herunter, bis der Verschluss an der Seite einschnappte. »Es ist am besten, wenn du schläfst«, rief er durch das schimmernde blaue Geflecht von Drähten zu ihr hinunter.
»Aber ich bin nicht schläfrig«, wandte sie ein, ganz sachlich gestimmt. »Ich spüre überhaupt nichts …«
Und dann kam es.
Es war nicht das, was sie aus ihrem eigenen Erleben des Fiebers erwartet hatte; es gab keine quälende Einwirkung auf ihre Persönlichkeit, keine genaue Quelle von Empfindungen. Es gab nur ein warmes, alles durchdringendes Leuchten. Sie war eingehüllt. Sie war ein Atom in einer Brühe der Empfindung. Die anderen Atome hatten keine Form oder Eigenart. Sie waren nicht greifbar oder scharf umrissen. Sie konnte immer noch Wan sehen, der durch die Drähte sorgenvoll auf sie hinabstarrte, als sie die Augen öffnete, und diese anderen – Seelen? – waren nicht annähernd so wirklich oder nah. Aber sie konnte sie spüren, wie sie noch nie eine andere Präsenz gespürt hatte. Rundherum. Neben ihr. In ihr. Sie waren warm. Sie waren tröstlich.
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