Als Wan endlich das Oberteil aus Drähten hochriss und an ihrem Arm zerrte, lag sie da und starrte ihn an. Sie besaß weder die Kraft noch den Wunsch aufzustehen. Er musste ihr aufhelfen, und sie stützte sich auf seine Schulter, als sie sich auf den Rückweg machten.
Sie waren auf halbem Weg zurück zum Schiff der Herter-Halls, als die anderen Mitglieder der Familie ihnen wütend entgegenkamen.
»Du stupides, kleines Miststück!«, schrie Paul. »Mach so etwas noch einmal, und ich versohl’ dir deinen rosigen Hintern!«
Sie waren alle so streitsüchtig geworden. Niemand versohlte Janine den Hintern dafür, dass sie die Traumliege ausprobiert hatte. Sie wurde überhaupt nicht bestraft. Stattdessen bestraften sich alle gegenseitig und die ganze Zeit über. Der Waffenstillstand, der dreieinhalb Jahre gehalten hatte, weil jeder von ihnen ihn für sich selbst durchsetzte, wenn die einzige Alternative wechselseitiger Mord hieß, zerfiel. Paul und der alte Mann sprachen zwei Tage lang kein Wort miteinander, weil Peter die Liege abmontiert hatte, ohne sich mit den anderen abzustimmen. Lurvy und ihr Vater zischten und schrien einander an, weil sie zu viel Salz für ihr Essen programmiert hatte, und erneut, nachdem er an die Reihe gekommen war, weil er zu wenig eingab. Und was Lurvy und Paul anging – sie schliefen nicht mehr miteinander, sie sahen sich kaum an, sie wären gewiss kein Ehepaar geblieben, wenn es im Umkreis von 5000 AE ein Scheidungsgericht gegeben hätte.
Aber wenn es im Umkreis von 5000 AE irgendeine Autorität gegeben hätte, wären wenigstens die Streitfragen entschieden worden. Eine andere Stelle hätte für sie Entscheidungen fällen können. Sollten sie heimfliegen? Sollten sie versuchen, das Leitsystem der Nahrungsfabrik zu umgehen? Sollten sie mit Wan zu dem anderen Gebilde fliegen und es sich ansehen – und wenn ja, wer sollte gehen und wer hier bleiben? Auf größere Pläne vermochten sie sich nicht zu einigen. Sie erzielten nicht einmal Einigung über unmittelbar zu treffende Entscheidungen, z.B. eine Maschine auseinander zu nehmen und Gefahr zu laufen, dass sie dann defekt war, oder sie in Ruhe zu lassen und die Hoffnung auf eine wundersame Neuentdeckung aufzugeben, die alles verändern mochte. Sie konnten sich nicht darauf einigen, wer über Funk mit den Toten Menschen sprechen oder was man sie fragen sollte. Wan zeigte ihnen bereitwillig, wie man versuchte, die Toten Menschen zum Reden zu bringen, und sie schlossen Veras »Ton«-System an den »Funk« an. Vera konnte aber nicht viel Material aufnehmen und abgeben, und als die Toten Menschen ihre Fragen nicht verstanden oder nicht mittun wollten oder einfach zu verrückt waren, um von Nutzen zu sein, war Vera geschlagen.
Für Janine war das alles schrecklich, aber das Schlimmste war Wan selbst. Die Streitigkeiten schufen in ihm Verwirrung und Empörung. Er hörte auf, hinter ihr herzulaufen. Und nach einer Schlafperiode, als sie sich aufsetzte und nach ihm Ausschau hielt, war er fort.
Zum Glück für Janines Stolz waren auch alle anderen verschwunden – Paul und Lurvy befanden sich am Außenrumpf, um die Antennen neu auszurichten; ihr Vater schlief, sodass sie Zeit hatte, mit ihrer Eifersucht fertigzuwerden. Soll er sich benehmen wie ein Ferkel!, dachte sie. Es war dumm von ihm, nicht zu begreifen, dass sie viele Freunde hatte, während er nur sie besaß, aber er würde schon dahinter kommen. Sie war damit beschäftigt, lange Briefe an ihre vernachlässigten Brieffreunde zu verfassen, als sie Paul und ihre Schwester zurückkommen hörte. Sie berichtete, dass Wan schon seit über einer Stunde verschwunden war, aber auf ihre Reaktion war sie nicht gefasst.
»Pa!«, schrie Lurvy und rüttelte am Vorhang des Privatabteils, in dem ihr Vater schlief. »Wach auf! Wan ist fort!«
Als der alte Mann blinzelnd hochfuhr, sagte Janine verärgert: »Was habt ihr denn auf einmal alle?«
»Du begreifst nicht, wie?«, gab Paul kalt zurück. »Was ist, wenn er mit dem Schiff abgeflogen ist?«
Das war eine Möglichkeit, die Janine gar nicht in den Sinn gekommen war, und sie wirkte wie ein Schlag in ihr Gesicht.
»Das tut er nicht!«
»Nein?«, zischte ihr Vater. »Woher willst du denn das wissen? Und was wird aus uns, wenn er es doch getan hat?« Er zog den Reißverschluss seiner Kombination zu und funkelte die anderen an. »Ich habe euch allen erklärt«, sagte er, als er aufstand – wobei er jedoch Lurvy und Paul ansah, damit Janine begriff, dass mit »allen« nicht sie gemeint war –, »ich habe euch erklärt, dass wir eine endgültige Lösung finden müssen. Wenn wir in seinem Schiff mitfliegen sollen, müssen wir das tun. Wenn nicht, dürfen wir nicht das Risiko eingehen, dass er plötzlich auf die dumme Idee kommt, einfach zurückzufliegen, ohne ein Wort zu sagen. Das steht fest.«
»Und wie machen wir das?«, fuhr ihn Lurvy an. »Das ist doch lächerlich, Pa. Wir können das Schiff nicht Tag und Nacht bewachen.«
»Und deine Schwester kann den Jungen nicht bewachen, richtig«, sagte der alte Mann mit einem Nicken. »Wir müssen also entweder das Schiff flugunfähig machen oder den Jungen.«
Janine stürzte sich auf ihn.
»Ihr Ungeheuer!«, schrie sie mit erstickter Stimme. »Ihr habt das die ganze Zeit abgesprochen, als wir nicht dabei waren!«
Ihre Schwester packte sie und hielt sie fest.
»Beruhige dich, Janine«, sagte sie. »Ja, es ist wahr, wir haben darüber gesprochen – wir mussten es tun! Aber es ist nichts entschieden, schon gar nicht, dass wir Wan wehtun.«
»Dann entscheidet!«, brauste Janine auf. »Ich stimme dafür, dass wir Wan begleiten!«
»Wenn er nicht schon allein geflogen ist«, warf Paul ein.
»Ist er nicht!«
»Wenn er fort ist, können wir jetzt auch nichts mehr machen«, meinte Lurvy vernünftig. »Abgesehen davon, schließe ich mich Janine an. Wir fliegen mit! Was sagst du, Paul?«
Er zögerte mit seiner Antwort.
Und plötzlich war Wan wieder bei ihnen.
»Ich meine auch«, sagte nun Paul, als wäre nichts geschehen gewesen. »Und du, Peter?«
Der alte Mann erklärte mit Würde: »Wenn ihr euch alle einig seid, kommt es wohl nicht mehr darauf an, wie ich abstimme, oder? Es bleibt nur noch die Frage, wer gehen soll und wer bleibt. Ich schlage vor …«
Lurvy unterbrach ihn.
»Pa«, sagte sie, »ich weiß, was du sagen willst, aber das geht nicht. Wir müssen mindestens eine Person hier lassen, um Verbindung mit der Erde zu halten. Janine ist zu jung. Ich kann das nicht sein, weil ich die Pilotin bin und das eine Gelegenheit ist, zu lernen, wie man ein Hitschi-Schiff steuert. Ich will nicht ohne Paul gehen. Also bleibst nur du.«
Sie nahmen Vera Bauteil für Bauteil auseinander und verteilten die Komponenten in der ganzen Nahrungsfabrik. Zwischenspeicher, Eingänge und Wiedergabeschirme kamen in die Traumkammer, Festspeicher davor in den Tunnel, Übermittlung blieb in ihrem alten Schiff. Peter half wortkarg mit; der Sinn dessen, was sie taten, bestand darin, künftige Mitteilungen der Forschungsgruppe über das Funksystem der Toten Menschen zu verbreiten. Peter half mit, sich selbst überflüssig zu machen, und wusste das auch. Im Schiff gebe es Nahrung genug, erklärte ihnen Wan, aber Paul wollte sich damit nicht zufriedengeben und veranlasste, dass sie an Rationen mitnahmen, was sie an Bord unterbringen konnten. Dann verlangte Wan, dass sie Wasservorräte mitnahmen, worauf sie die Aufbereitungsmengen im Schiff verringerten, um seine Plastikbeutel zu füllen und sie zu verladen. In Wans Raumschiff gab es keine Betten. Man brauchte sie nicht, erklärte Wan, weil die Beschleunigungskokons ausreichten, um sie bei Manövern zu schützen und auf dem Rest der Reise zu verhindern, dass sie im Schlaf umherschwebten. Vorschlag abgelehnt von Lurvy und Paul, die ihre Schlafsäcke aus dem Privatabteil ausbauten und im Schiff wieder anbrachten. Persönlicher Besitz: Janine wollte ihren Geheimvorrat an Parfüm und Büchern mitnehmen, Lurvy ihre persönliche Tasche, Paul seine Patiencekarten. Die Verladerei war eine lange und mühsame Arbeit, obwohl sie dahinter kamen, dass sie leichter fiel, wenn sie die Plastik-Wassersäcke und die anderen, weicheren Vorräte in einem Zeitlupen-Fangspiel durch die Korridore warfen. Endlich war alles verstaut. Peter saß mit mürrischer Miene an einer Korridorwand, sah zu, wie die anderen durcheinander liefen, und versuchte herauszufinden, was vergessen worden war. Janine kam es so vor, als behandelten sie ihn schon wie einen Abwesenden, wenn nicht Toten, und sie sagte: »Paps? Nimm es nicht so schwer. Wir sind alle so bald zurück, wie es nur geht.«
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