Janine trank einen damenhaften kleinen Schluck und gab ihrem Vater die Flasche.
»Ich dachte, du und Lurvy, ihr mögt einen Gutenachtschluck«, sagte sie nach einem Räuspern. Sie durfte erst seit ihrem vierzehnten Geburtstag Hochprozentiges trinken, es schmeckte ihr immer noch nicht, und sie beharrte nur darauf, weil es ein Vorrecht der Erwachsenen war.
»Gute Idee«, sagte Peter nickend. »Ich bin jetzt, wie viel sind es, ja, fast zwanzig Stunden auf den Beinen. Wir sollten alle noch ein wenig schlafen, bevor wir landen«, fügte er hinzu und gab die Flasche an meine Frau weiter, die einen Zehntelliter in ihre geübte Kehle spritzte und sagte: »Ich bin eigentlich noch gar nicht schläfrig. Wisst ihr, was ich machen möchte? Am liebsten würde ich noch einmal das Band von Trish Bover abspielen.«
»Ach du guter Gott, Lurvy! Das haben wir alle schon x-mal gesehen!«
»Ich weiß, Janine. Du brauchst es dir auch nicht anzusehen, wenn du nicht willst, aber ich habe mich immer wieder gefragt, ob eines dieser Schiffe jenes von Trish ist, und … na ja, ich will es mir einfach noch einmal ansehen.«
Janines Lippen wurden schmal, aber die Gene setzten sich durch, und ihre Selbstbeherrschung war so stark wie die ihrer Schwester, wenn sie wollte – das gehörte zu den Dingen, auf die wir geprüft wurden, bevor man uns die Mission übertrug.
»Ich wähle es an«, sagte sie und stieß sich ab, zu Veras Tastatur hinüber. Peter schüttelte den Kopf und zog sich in sein Privatabteil zurück. Er zog die Falttafel zu, um uns auszusperren, und wir anderen versammelten uns um die Konsole. Weil es ein Band war, konnten wir die Aufzeichnung optisch wie akustisch verfolgen. Nach ungefähr zehn Sekunden konnten wir die arme, zornige Trish Bover sehen, wie sie in die Kamera sprach und die letzten Worte sagte, die je ein Mensch von ihr hören sollte.
Tragisches kann nur für eine gewisse Zeit tragisch sein, und wir hatten das nun dreieinhalb Jahre lang immer wieder gehört. Das Band spielten wir regelmäßig ab und betrachteten die Szenen, die sie mit ihrer Handkamera aufgenommen hatte. Nicht, weil wir glaubten, mehr daraus zu erfahren, als die Leute von der Gateway-Gesellschaft bereits entnommen hatten, sondern weil wir uns noch einmal vergewissern wollten, dass sich alles lohnte. Die wahre Tragödie war die, dass Trish nicht wusste, was sie gefunden hatte.
»Hier ist Flugbericht Null. Vierundsiebzig D Neunzehn«, begann sie, noch ganz ruhig. Ihr trauriges, armes Gesicht versuchte sogar zu lächeln. »Ich scheine in Schwierigkeiten zu sein. Ich bin bei einer Art Hitschi-Gebilde herausgekommen und habe angedockt, und jetzt kann ich nicht mehr weg. Die Raketen der Landekapsel funktionieren, aber die Hauptkonsole nicht. Und ich will nicht hier bleiben, bis ich verhungere.« Verhungern! Nachdem die großen Wissenschaftler Trishs Aufnahmen durchgesehen hatten, erkannten sie, was das für ein »Gebilde« war – die CHON-Nahrungsfabrik, nach der sie immer schon gesucht hatten.
Aber ob es sich lohnte, war immer noch eine offene Frage, und Trish glaubte ganz sicher nicht, dass es sich lohnte. Sie glaubte vielmehr, dass sie dort sterben würde; dass sie nicht einmal ihren Lohn für den Flug kassieren konnte. Und ganz am Ende versuchte sie, mit der Landekapsel zurückzugelangen.
Sie stieg in die Kapsel und richtete sie auf die Sonne, schaltete die Motoren ein und nahm eine Pille. Nahm viele Pillen; alle, die sie hatte. Dann stellte sie die Kühlanlage auf höchste Leistung, setzte sich hin und schloss die Tür hinter sich.
»Taut mich auf, wenn ihr mich findet«, sagte sie, »und vergesst meine Belohnung nicht.«
Und vielleicht würde man das wirklich nicht vergessen. Sobald man sie fand. Falls man sie fand. Vielleicht in zehntausend Jahren. Bis ihre schwache Funkbotschaft von jemandem gehört wurde – vielleicht bei der fünfhundertsten automatischen Wiederholung –, war es viel zu spät, als dass das für Trish noch eine Rolle gespielt hätte; sie antwortete nie.
Vera spielte das Band bis zu Ende ab und verstaute es dann wieder in ihrem Archiv; der Bildschirm wurde dunkel.
»Wäre Trish eine richtige Pilotin gewesen, statt eine von diesen wilden Gateway-Sucherinnen, die reinspringen, auf den Knopf drücken und das Raumschiff machen lassen, was es will«, sagte Lurvy, übrigens nicht zum ersten Mal, »hätte sie sich besser ausgekannt. Sie hätte den schmalen Delta-Vektor der Landekapsel genutzt, um einen Teil des Massenträgheitsmoments zu verringern, statt den Rest zu vergeuden, indem sie schnurgerade zielte.«
»Danke, Pilotenexpertin«, sagte ich, auch nicht zum ersten Mal. »Dann hätte sie damit rechnen können, viel früher im Asteroidengürtel zu sein, nicht? Vielleicht schon in sechs- oder siebentausend Jahren.«
Lurvy zog die Schultern hoch.
»Ich gehe zu Bett«, sagte sie und bediente sich ein letztes Mal aus der Flasche. »Und du, Paul?«
»Ach, seid doch nicht so«, sagte Janine. »Ich wollte Paul bitten, dass er mir hilft, die Zündabläufe für die Ionentriebwerke durchzugehen.«
Lurvy war sofort auf der Hut.
»Bist du sicher, dass er nur das mit dir durchgehen soll? Schmoll nicht, Janine. Du weißt, du bist das oft genug durchgegangen, und außerdem ist das Pauls Aufgabe.«
»Und was ist, wenn Paul ausfällt?«, gab Janine sofort zurück. »Woher wissen wir, dass wir nicht gerade dann in die irre Zeit geraten, wenn wir dabei sind?«
Das konnte nun wirklich niemand wissen, und ich war im Übrigen schon zu der Meinung gelangt, dass uns das passieren würde. Dieses Phänomen trat regelmäßig in Abständen von ungefähr hundertdreißig Tagen auf, ein Dutzend Tage hin oder her. Wir kamen knapp hin.
»Ich bin eigentlich ein bisschen müde, Janine«, erklärte ich. »Ich verspreche dir, dass wir das morgen machen.«
Oder eben dann, wenn gleichzeitig einer von den anderen wach war – es kam vor allem darauf an, mit Janine nicht allein zu sein in einem Schiff mit dem Gesamtrauminhalt eines Motelzimmers. Man würde sich wundern, wie schwer es ist, sich in einem Raumschiff mit dem Gesamtrauminhalt eines Motelzimmers einzurichten. Praktisch unmöglich.
Aber in Wirklichkeit war ich nicht müde, und als Lurvy neben mir eingeschlafen war – ihre Atmung war zu leise, als dass man sie irgendwie ein Schnarchen hätte nennen können –, reckte ich mich im Bett. Ich war hellwach und zählte auf, was positiv war. Das musste ich mindestens einmal am Tag tun. Wenn ich etwas zum Aufzählen finden konnte.
Diesmal fand ich etwas Gutes. Viertausend AE. Mehr als viertausend AE stellen eine lange Reise dar – und das in Luftlinie. Oder eigentlich in Photonenlinie, weil es im interstellaren Raum nur sehr wenig Luft gibt. Sagen wir, eine halbe Billion Kilometer, da fehlte nicht viel. Und wir flogen in einer Spirale hinaus, was fast einen ganzen Umlauf um die Sonne ausmachte, bevor wir ans Ziel kamen. Unsere Bahn erstreckte sich nicht bloß über 25 Lichttage, es waren schon eher 60. Und bei gleichmäßigem Antrieb während des gesamten Weges kamen wir an die Lichtgeschwindigkeit nicht einmal heran. Dreieinhalb Jahre … und die ganze Zeit über dachten wir: Mensch, was ist, wenn einer sich mit dem Hitschi-Antrieb auskennt, bevor wir dort sind? Geholfen hätte uns das gar nichts. Es wäre viel mehr Zeit vergangen als dreieinhalb Jahre, bevor man dazu hätte kommen können, all das zu tun, was man tun wollte, wenn es einmal so weit war. Und rate mal einer, wo auf der Liste das Vorhaben gestanden hätte, uns nachzufliegen.
Das Schöne, worüber ich also nachdenken konnte, war, dass wir wenigstens nicht vor der Erkenntnis stehen würden, der Flug sei umsonst gewesen, weil wir fast schon an Ort und Stelle waren.
Alles, was noch übrig blieb, war, die großen Ionentriebwerke an der Fabrik festzumachen … nachzuprüfen, ob das funktionierte … den langsamen Rückflug anzutreten, das Ding zurück zur Erde zu schieben … und auf irgendeine Weise zu überleben, bis wir dort waren. Sagen wir, na ja, noch einmal vier Jahre.
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