Mir wurde kalt. Ich stand auf, um Essie den Morgenmantel zu geben und meinen eigenen anzuziehen. Auf dem Sideboard stand noch Kaffee, und er war auch noch heiß.
»Für mich auch«, sagte Essie, als ich eingoss.
»Solltest du dich nicht ausruhen?«
»Wenn ich müde bin«, sagte sie sachlich, »wirst du das merken, weil ich mich herumdrehe und schlafe. Ist sehr lange her, seit wir beide das miteinander hatten. Ich genieße es.« Sie ließ sich von mir eine Tasse geben und sah mich über den Rand hinweg an, während sie schlürfte. »Aber du nicht«, meinte sie dann.
»Doch!« Und so war es auch, aber die Ehrlichkeit veranlasste mich hinzuzufügen: »Ich gebe mir manchmal selbst Rätsel auf, Essie. Woher kommt es, dass in meinem Kopf ein Schuldgefühl entsteht, wenn du mir Liebe zeigst?«
Sie stellte ihre Tasse hin und ließ sich zurücksinken.
»Möchtest du mir davon erzählen, lieber Robin?«
»Das habe ich eben getan.« Dann sagte ich: »Wenn überhaupt jemanden, dann sollte ich wohl den alten Sigfrid Seelenklempner rufen und es ihm sagen.«
»Er ist immer verfügbar«, gab sie zurück.
»Hm. Wenn ich mit ihm anfange, weiß der Himmel, wann ich je fertig bin. Außerdem ist er nicht das Programm, mit dem ich reden will. Es ist so vieles im Gange, Essie. Und alles geschieht ohne mich. Ich komme mir vergessen vor.«
»Ja«, sagte sie, »mir ist klar, was in dir vorgeht. Gibt es etwas, das du tun möchtest, damit du dieses Gefühl verlierst ?«
»Tja … vielleicht«, erwiderte ich. »Was Peter Herter angeht, zum Beispiel. Ich habe mich mit einer Idee befasst, die ich gern mit Albert Einstein besprechen würde.«
Sie nickte.
»Also gut, warum nicht?« Sie setzte sich auf die Bettkante. »Gib mir bitte die Hausschuhe. Machen wir das gleich.«
»Jetzt? Aber es ist schon spät … du solltest nicht …«
»Robin«, sagte sie zärtlich, »ich habe auch mit Sigfrid Seelenklempner gesprochen. Ist ein gutes Programm, selbst wenn es nicht von mir geschrieben wurde. Es sagt, dass du ein guter Mann bist, Robin, gut angepasst, großzügig, und das kann ich alles nur bestätigen, um zu ergänzen: ausgezeichneter Liebhaber und sehr lustige Gesellschaft. Komm mit ins Arbeitszimmer.« Sie griff nach meiner Hand, als wir den großen Raum über dem Tappan-See betraten und uns vor meiner Konsole auf das kleine Sofa setzten. »Sigfrid meint aber, dass du großes Talent dazu hast, Gründe zu erfinden, um etwas nicht zu tun«, fuhr sie fort. »Deshalb will ich dir helfen, dass du dich aufraffst. Daite gorod Polymath .« Das sagte sie nicht zu mir, sondern zur Konsole, die sofort aufleuchtete. »Zeig Albert- und Sigfrid-Programm gleichzeitig!«, befahl sie. »Zugang zu beiden im interaktiven Modus. Also, Robin! Gehen wir den Fragen nach, die du aufgeworfen hast. Schließlich interessiert mich das auch alles sehr.«
Diese Frau, die ich geheiratet habe, überrascht mich am meisten, wenn ich es am wenigsten erwarte. Sie saß ganz behaglich neben mir und hielt meine Hand, während ich ganz offen davon sprach, jene Dinge zu tun, die ich am liebsten unterlassen hätte. Es ging nicht einfach darum, zum Hitschi-Himmel und zur Nahrungsfabrik zu fliegen und den alten Peter Herter daran zu hindern, dass er die ganze Welt aus dem Gleichgewicht brachte. Es ging darum, wohin ich anschließend fliegen wollte.
Aber am Anfang sah es nicht so aus, als käme ich überhaupt irgendwohin.
»Albert«, sagte ich, »du hast mir erzählt, du hättest eine Kurseinstellung zum Hitschi-Himmel nach den Gateway-Aufzeichnungen erarbeitet. Kannst du das für die Nahrungsfabrik auch?«
Die beiden saßen nebeneinander im PV-Tank, Albert an seiner Pfeife saugend, Sigfrid, die Hände ineinander verflochten und stumm, aufmerksam zuhörend. Er würde nichts sagen, bis ich ihn ansprach, und das gedachte ich nicht zu tun.
»Fürchte, nein«, sagte Albert bedauernd. »Wir haben nur eine bekannte Kurseinstellung für die Nahrungsfabrik, die von Trish Bover, und das genügt nicht, um sicherzugehen. Vielleicht sechzig Prozent Wahrscheinlichkeit, dass ein Schiff dort eintrifft. Aber was dann, Robin? Es könnte nicht zurückkommen. Oder jedenfalls kam Trish Bovers Schiff nicht wieder.« Er setzte sich bequemer zurecht und fuhr fort: »Es gibt natürlich bestimmte Alternativen.« Er warf einen Blick auf Sigfrid Seelenklempner. »Man könnte Herters Verstand durch Suggestionen so beeinflussen, dass er seine Pläne ändert.«
»Würde das gehen?« Ich sprach immer noch mit Albert Einstein. Er zuckte die Achseln, und Sigfrid bewegte sich, sagte aber nichts.
»Ach, sei nicht so kindisch«, rügte Essie. »Antworte, Sigfrid.«
»Gosposcha Laworowna«, sagte er, während er mir einen Blick zuwarf, »ich glaube nicht. Ich glaube, mein Kollege hat diese Möglichkeit nur zur Sprache gebracht, damit ich sie als unbrauchbar abtun kann. Ich habe die Aufzeichnungen von Peter Herters Sendungen studiert. Die Symbolik ist ganz deutlich. Die engelhaften Frauen mit den Raubvogelschnäbeln – was ist eine ›Hakennase‹, Gosposcha? Denken Sie an Peters Kindheit und an das, was er von der ›Säuberung‹ der Welt von den bösen Juden gehört hat. Dann die Gewalttätigkeit, der Wunsch zu strafen. Er ist ziemlich krank, hat schon einen Herzanfall hinter sich und ist nicht mehr bei Sinnen; vielmehr ist er in einen kindlichen Zustand zurückgefallen. Weder Suggestion noch Appelle an die Vernunft werden helfen, Gosposcha. Die einzige Möglichkeit wäre vielleicht eine langdauernde Analyse. Er würde kaum zustimmen, der Bordcomputer käme nicht gut zurecht damit, und außerdem haben wir keine Zeit. Ich kann Ihnen nicht helfen, Gosposcha, nicht mit einer echten Aussicht auf Erfolg.«
Vor sehr langer Zeit hatte ich zweihundert zumeist sehr unangenehme Stunden damit verbracht, auf Sigfrids vernünftige, aufreizende Stimme zu hören, und ich hatte sie nie mehr wieder hören wollen. Aber ganz so schlimm war es gar nicht.
Neben mir zuckte Essie die Schultern.
»Polymath«, rief sie, »lass frischen Kaffee machen.« Zu mir sagte sie: »Ich glaube, wir sitzen hier lange.«
»Ich weiß nicht, wozu«, wandte ich ein. »Ich scheine in einer aussichtslosen Lage zu sein.«
»Wenn das wirklich so ist, brauchen wir den Kaffee nicht zu trinken, sondern können wieder ins Bett gehen«, meinte sie tröstend. »Weißt du, inzwischen genieße ich das sehr, Robin.«
Nun, warum nicht? Ich war seltsamerweise nicht schläfriger, als Essie es zu sein schien. Tatsächlich war ich wach und entspannt zugleich, und meine Gedanken waren nie klarer gewesen.
»Albert«, sagte ich, »gibt es Fortschritte bei der Entzifferung der Hitschi-Bücher?«
»Keine großen, Robin«, entschuldigte er sich. »Es gibt noch andere mathematische Bände von der Art, wie Sie einen gesehen haben, aber noch keine Sprache … ja, Robin?«
Ich schnippte mit den Fingern. Ein verirrter Gedanke in einem Winkel meines Gehirns war aufgetaucht.
»Flotte Zahlen«, sagte ich. »Die Zahlen, die uns das Buch zeigte. Das sind dieselben wie jene, die von den Toten Menschen ›flotte Zahlen‹ genannt werden.«
»Klare Sache, Robin«, sagte er mit einem Nicken. »Sie sind dimensionslose Grundkonstanten des Universums oder zumindest dieses Universums. Es stellt sich aber die Frage von Machs Prinzip, die unterstellt …«
»Nicht jetzt, Albert! Wo, glaubst du, haben die Toten Menschen sie her?«
Er schwieg und zog die Brauen zusammen. Er klopfte seine Pfeife aus und warf einen Blick auf Sigfrid, bevor er sagte: »Ich möchte meinen, dass die Toten Menschen eine Berührung mit der Hitschi-Maschinenintelligenz hinter sich haben. Ohne Zweifel gab es Übertragung in beide Richtungen.«
»Genau meine Meinung! Was vermutest du noch , das die Toten Menschen wissen könnten?«
»Sehr schwer zu sagen. Sie sind sehr unvollständig gespeichert, wissen Sie. Die Verständigung war bestenfalls außerordentlich schwierig und ist jetzt ganz unterbrochen.«
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