»Das ist alles faszinierend«, sagte Grego, »aber es ist keine Wissenschaft. Es gibt zahlreiche Erklärungen für diese Pfeile und die zufällige Aufnahme und Abgabe…«
»Nicht zufällig«, sagte Quara.
»Nichts davon ist Sprache«, sagte Grego.
Ender ignorierte den Streit, da Jane ihm durch den Empfänger in seinem Ohr etwas zuflüsterte. Sie sprach jetzt seltener zu ihm als in den vergangenen Jahren. Er lauschte aufmerksam und nahm nichts als gegeben hin. »Sie ist einer wichtigen Sache auf der Spur«, sagte Jane. »Ich habe mir ihre Forschungen angesehen, und dort geht etwas vor, was mit keinem anderen subzellularen Geschöpf geschieht. Ich habe die Daten verschiedenen Analysen unterzogen, und je mehr ich simuliere und dieses besondere Verhalten der Descolada teste, desto weniger sieht es nach einer genetischen Kodierung und um so mehr nach einer Sprache aus. Im Augenblick können wir die Möglichkeit, daß es sich um eine freiwillige Informationsaufnahme handelt, nicht ausschließen.«
Als Ender seine Aufmerksamkeit wieder dem Streit zuwandte, führte Grego gerade das Wort. »Warum müssen wir alles, was wir uns noch nicht erklären können, als eine Art mystische Erfahrung darstellen?« Grego schloß die Augen und fuhr übertrieben pathetisch fort: »Ich habe neues Leben gefunden! Ich habe neues Leben gefunden!«
»Hör auf!« rief Quara.
»Das Gespräch gerät uns aus der Hand«, sagte Novinha. »Grego, versuche, deine Äußerungen auf der Ebene einer rationalen Diskussion zu halten.«
»Das ist schwer, wenn die ganze Sache so irrational ist. Ate agora quem ja imaginou microbiologista que se torna namorada de uma molecula?« Wer hat je von einer Mikrobiologin gehört, die sich in ein Molekül verknallt?
»Das reicht!« sagte Novinha scharf. »Quara ist genauso Wissenschaftlerin wie du, und…«
»Sie war mal eine«, murmelte Grego.
»Und – wenn du mich freundlicherweise ausreden lassen würdest – sie hat ein Recht darauf, gehört zu werden.« Novinha war jetzt ziemlich wütend, doch wie üblich wirkte Grego keineswegs beeindruckt. »Du solltest mittlerweile wissen, Grego, daß es oft die Ideen sind, die zuerst am absurdesten sind und gegen jede Intuition zu verstoßen scheinen, die dann später fundamentale Veränderungen in der Art und Weise bewirken, wie wir die Welt sehen.«
»Haltet ihr das wirklich für eine dieser grundlegenden Entdeckungen?« fragte Grego und musterte sie einen nach dem anderen. »Ein sprechender Virus? Se Quara sabe tanto, porque ela nao diz o que e que aqueles bichos dizem?« Warum sagt sie uns nicht, was diese kleinen Tierchen sagen, wenn sie doch soviel darüber weiß? Es war ein Zeichen, daß die Diskussion aus der Hand geriet, daß er ins Portugiesische fiel, anstatt Stark zu sprechen, die Sprache der Wissenschaft – und der Diplomatie.
»Spielt das eine Rolle?« fragte Ender.
»Eine Rolle!« sagte Quara.
Ela betrachtete Ender konsterniert. »Es geht nur um den Unterschied, eine gefährliche Krankheit zu kurieren und eine ganze vernunftbegabte Spezies zu vernichten. Ich glaube, es spielt eine Rolle.«
»Ich meinte«, sagte Ender geduldig, »spielt es eine Rolle, ob wir wissen, was sie sagen?«
»Nein«, sagte Quara. »Wir werden ihre Sprache wahrscheinlich niemals verstehen, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß sie ein Bewußtsein haben. Was sollten sich Viren und Menschen überhaupt zu sagen haben?«
»Wie wäre es mit: ›Bitte hört auf, uns zu töten?‹« sagte Grego. »Es wäre vielleicht ganz nützlich, wenn du herausfändest, wie du das in der Virensprache sagen kannst.«
»Aber Grego«, sagte Quara mit spöttischer Freundlichkeit, »sagen wir das zu ihnen, oder sagen sie das zu uns?«
»Wir müssen uns nicht heute entscheiden«, sagte Ender. »Wir können es uns leisten, noch eine Weile zu warten.«
»Woher willst du das wissen?« fragte Grego. »Woher willst du wissen, daß wir morgen nachmittag nicht alle aufwachen, und es zerrt und juckt und schmerzt, und wir verbrennen vor Fieber und sterben schließlich, weil der Descolada-Virus über Nacht herausgefunden hat, wie er uns ein für alle Mal ausmerzen kann? Es heißt wir oder sie.«
»Ich glaube, Grego hat uns gerade gezeigt, warum wir warten müssen«, sagte Ender. »Habt ihr gehört, wie er von der Descolada gesprochen hat? Sie findet heraus, wie sie uns ausmerzen kann. Sogar er ist der Ansicht, daß die Descolada einen Willen hat und Entscheidungen trifft.«
»Das war nur so eine Redensart«, sagte Grego.
»Wir alle sprechen so«, sagte Ender. »Und denken auch so. Weil wir alle fühlen, daß wir mit der Descolada im Krieg liegen. Das ist mehr, als nur eine Krankheit zu bekämpfen – es ist, als ob wir einen intelligenten, einfallsreichen Feind haben, der all unsere Schachzüge im voraus neutralisiert. In der gesamten Geschichte der medizinischen Forschung hat noch nie jemand gegen eine Krankheit gekämpft, die so viele Möglichkeiten hatte, die gegen sie eingesetzten Strategien auszuschalten.«
»Nur, weil noch nie jemand gegen einen Krankheitserreger mit einem so übergroßen und komplexen genetischen Molekül gekämpft hat«, sagte Grego.
»Genau«, sagte Ender. »Es handelt sich um einen einzigartigen Virus, und demzufolge könnte er Fähigkeiten haben, die wir uns bei einer Spezies von geringerer Komplexität als ein Wirbeltier nie vorgestellt haben.«
Einen Augenblick lang hingen Enders Worte in der Luft und wurden von Schweigen beantwortet; einen Augenblick lang glaubte Ender, in dieser Runde doch noch eine nützliche Funktion wahrgenommen, nur durch Worte eine gewisse Übereinstimmung erzielt zu haben.
Grego nahm ihm diese Hoffnung schnell wieder. »Selbst wenn Quara hundertprozentig recht hätte und alle Descolada-Viren Philosophieprofessoren wären und ständig Dissertationen veröffentlichten, wie man den Menschen übel mitspielen kann, bis sie tot sind… was dann? Werfen wir uns alle auf die Erde und strecken alle viere von uns, nur weil der Virus, der uns töten will, so verdammt klug ist?«
»Ich glaube, Quara und Ela sollten ihre Forschungen fortsetzen«, antwortete Novinha ruhig. »Und wir sollten ihnen mehr Mittel zur Verfügung stellen.«
Diesmal hatte Quara einen Einwand. »Warum sollte ich mir die Mühe machen, sie zu verstehen versuchen, wenn ihr anderen noch daran arbeitet, sie zu töten?«
»Das ist eine gute Frage, Quara«, sagte Novinha. »Andererseits… warum solltest du dich bemühen, sie zu verstehen, wenn sie plötzlich einen Weg finden, an all unseren chemischen Barrieren vorbeizukommen und uns alle zu töten?«
»Wir oder sie«, murmelte Grego.
Ender wußte, daß Novinha eine gute Entscheidung getroffen hatte – sie betrieben beide Forschungslinien weiter und würden später einen Entschluß fassen, wenn sie mehr wußten. Quara und Grego begriffen beide nicht, worauf es ankam, gingen beide davon aus, alles hinge davon ab, ob die Descolada ein Bewußtsein habe oder nicht. »Selbst wenn sie ein Bewußtsein haben«, sagte Ender, »bedeutet das nicht, daß sie unantastbar sind. Es hängt alles davon ab, ob sie Ramänner oder Varelse sind. Wenn sie Ramänner sind – wenn wir sie und sie uns so gut verstehen können, daß wir eine Möglichkeit zu einer Koexistenz finden, schön und gut. Wir werden gerettet, sie werden gerettet.«
»Der große Friedensschaffer hat vor, einen Vertrag mit einem Molekül zu schließen?« fragte Grego.
Ender ignorierte seinen spöttischen Tonfall. »Wenn sie jedoch versuchen, uns zu vernichten, und wir keine Möglichkeit finden, mit ihnen zu kommunizieren, dann sind sie Varelse – vernunftbegabte Außerirdische, aber unversöhnlich feindselig und gefährlich. Varelse sind Außerirdische, mit denen wir nicht leben können. Varelse sind Außerirdische, mit denen wir uns natürlich und permanent auf einen Krieg bis zum Tod verstricken, und dann besteht unsere einzige moralische Wahl darin, alles zu tun, was nötig ist, um zu gewinnen.«
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