Ender verließ den Vaterbaum und ging über den ausgetretenen Weg zur Menschensiedlung. Durch das Tor, durch die Tür des Xenobiologie-Labors. Der Pequenino, der als Elas vertrauenswürdigster Assistent diente – er hieß Taub, obwohl er eindeutig nicht schwerhörig war –, führte ihn sofort zu Novinhas Büro, wo Ela, Novinha, Quara und Grego bereits auf ihn warteten. Ender hielt den Beutel mit dem Teil der Kartoffelpflanze hoch.
Ela schüttelte den Kopf; Novinha seufzte. Aber sie wirkten nicht halb so enttäuscht, wie Ender es erwartet hatte. Es beschäftigte sie eindeutig etwas anderes.
»Damit mußten wir wohl rechnen«, sagte Novinha.
»Wir mußten es trotzdem versuchen«, sagte Ela.
»Warum mußten wir es versuchen?« fragte Grego. Novinhas jüngster Sohn – und demzufolge Enders Stiefsohn – war jetzt Mitte Dreißig und selbst ein brillanter Wissenschaftler; doch bei allen Diskussionen in der Familie schien er die Rolle des Advokaten des Teufels einzunehmen, ob es nun um Xenobiologie ging oder die Farbe der neuen Tapeten. »Indem wir diese neuen Züchtungen pflanzen, bringen wir der Descolada doch nur bei, wie sie jeder Strategie ausweichen kann, mit der wir sie töten wollen. Wenn wir sie nicht bald ausmerzen, wird sie uns ausmerzen. Und sobald die Descolada ausgemerzt ist, können wir normale alte Kartoffeln ohne diesen Unsinn pflanzen.«
»Das können wir nicht!« rief Quara. Ihre Nachdrücklichkeit überraschte Ender. Quara ergriff nur selten das Wort; diese Lautstärke entsprach ganz und gar nicht ihrem Charakter. »Ich sage euch, die Descolada ist ein Lebewesen.«
»Und ich sage euch, ein Virus ist ein Virus«, sagte Grego.
Es störte Ender, daß Grego die Ausmerzung der Descolada verlangte – es entsprach ihm gar nicht, so leicht etwas zu fordern, das die Pequeninos vernichten würde. Er war praktisch unter Pequeninomännchen aufgewachsen – er kannte sie besser, sprach ihre Sprache besser als jeder andere.
»Kinder, seid ruhig und laßt es mich Ender erklären«, sagte Novinha. »Wir sprachen darüber, was wir tun sollen, wenn auch diese Kartoffelzüchtung ein Fehlschlag ist, Ela und ich, und sie hat gesagt… nein, erkläre du es, Ela.«
»Der Plan ist doch ganz einfach. Anstatt Pflanzen zu züchten, die den Wuchs des Descolada-Virus hemmen, müssen wir an den Virus selbst heran.«
»Genau«, sagte Grego.
»Halt die Klappe«, sagte Quara.
»Bitte, tue uns allen den Gefallen, Grego, und erfülle deiner Schwester ihre höfliche Bitte«, sagte Novinha.
Ela seufzte und fuhr fort. »Wir können ihn nicht einfach töten, weil wir damit auch alles andere einheimische Leben auf Lusitania töten würden. Ich schlage also vor, eine neue Descolada-Züchtung zu entwickeln, die sich beim Fortpflanzungszyklus aller Lebensformen von Lusitania genauso verhält wie der derzeitige Virus, aber nicht die Fähigkeit hat, sich an neue Spezies anzupassen.«
»Du kannst diesen Teil des Virus eliminieren?« fragte Ender. »Du kannst ihn finden?«
»Wahrscheinlich nicht. Aber ich glaube, ich kann alle Teile des Virus finden, die bei den Schweinchen und allen anderen Tier-Pflanzen-Paaren aktiv sind, diese bewahren und alle anderen fallenlassen. Dann fügen wir eine rudimentäre Reproduktionsfähigkeit hinzu und lassen uns ein paar Rezeptoren einfallen, damit der neue Virus richtig auf die entsprechenden Veränderungen in den Gastkörpern reagiert, stecken die ganze Sache in ein kleines Organell, und dann hätten wir es – ein Ersatz für die Descolada, damit die Pequeninos und alle anderen einheimischen Spezies sicher sind, während wir ohne Angst leben können.«
»Du willst den ursprünglichen Descolada-Virus besprühen, um ihn auszumerzen?« fragte Ender. »Was ist, wenn es bereits einen resistenten Strang gibt?«
»Nein, wir besprühen sie nicht, denn damit könnten wir nicht die Viren ausmerzen, die sich bereits im Körper eines jeden Geschöpfs auf Lusitania befinden. Das ist der wirklich komplizierte Teil…«
»Als ob der Rest einfach wäre«, sagte Novinha, »ein neues Organell aus dem Nichts zu schaffen…«
»Wir können diese Organellen nicht einfach in ein paar Schweinchen injizieren oder sogar in alle von ihnen, weil wir sie dann auch in jedes andere einheimische Tier, in jeden Baum und Grashalm injizieren müßten.«
»Das ist unmöglich«, sagte Ender.
»Also müssen wir einen Mechanismus entwickeln, der die Organellen überall verbreitet und gleichzeitig die alten Descolada-Viren ein für alle Mal vernichtet.«
»Xenozid«, sagte Quara.
»Das ist der Streitpunkt«, sagte Ela. »Quara behauptet, die Descolada habe ein Bewußtsein.«
Ender musterte seine jüngste Stieftochter. »Ein bewußtes Molekül?«
»Sie haben eine Sprache, Andrew.«
»Wann ist das passiert?« fragte Ender. Er versuchte sich vorzustellen, wie ein genetisches Molekül – selbst eins, das so komplex wie der Descolada-Virus war – möglicherweise sprechen könnte.
»Ich habe es schon seit langen geahnt. Ich wollte nichts sagen, bis ich sicher war, aber…«
»Was heißt, daß es nicht sicher ist«, sagte Grego triumphierend.
»Aber ich bin mir jetzt fast sicher, und wir können nicht eine ganze Spezies vernichten, wenn wir keine Gewißheit haben.«
»Wie sprechen sie?« fragte Ender.
»Natürlich nicht wie wir«, sagte Quara. »Sie tauschen die Informationen auf einer molekularen Ebene miteinander aus. Ich bin darauf gekommen, als ich an dem Problem arbeitete, wieso sich die neuen resistenten Descoladastränge so schnell ausbreiten und alle alten Viren so schnell ersetzen. Ich konnte dieses Problem nicht lösen, weil ich die falsche Frage gestellt habe. Sie ersetzen die alten Viren nicht. Sie geben einfach Nachrichten weiter.«
»Sie werfen mit Pfeilen«, sagte Grego.
»Das war mein eigener Begriff dafür«, sagte Quara. »Ich habe nicht begriffen, daß es sich dabei um Sprache handelt.«
»Weil es keine Sprache ist«, sagte Grego.
»Das war vor fünf Jahren«, sagte Ender. »Du hast gesagt, die Pfeile, die sie ausschicken, enthalten die benötigten Gene, und dann ändern alle Viren, die die Pfeile empfangen haben, ihre Struktur ab und nehmen das neue Gen auf. Das ist kaum eine Sprache.«
»Aber nicht nur bei dieser Gelegenheit schicken sie Pfeile aus«, sagte Quara. »Diese Nachrichtenmoleküle bewegen sich die ganze Zeit über hinein und hinaus, und die meiste Zeit über befinden sie sich nicht mal im Körper. Sie werden von verschiedenen Teilen der Descolada gelesen und dann aneinander weitergegeben.«
»Das ist Sprache?« fragte Grego.
»Noch nicht«, sagte Quara. »Aber irgendwann, nachdem ein Virus einen dieser Pfeile gelesen hat, macht es einen neuen Pfeil und schickt ihn aus. Und das verrät mir, daß es sich um eine Sprache handelt: Der vordere Teil des neuen Pfeils beginnt immer mit einer Molekülfolge, die dem hinteren Anhängsel des Pfeils ähnelt, den er beantwortet. Er hält den Gesprächsfaden zusammen.«
»Gespräch«, sagte Grego verächtlich.
»Sei still oder stirb«, sagte Ela. Ender spürte, daß Elas Stimme auch nach all diesen Jahren noch die Macht hatte, Gregos vorlautem Mundwerk Einhalt zu gebieten – manchmal jedenfalls.
»Ich habe bei einigen dieser Gespräche bis zu hundert Aussagen und Antworten festgestellt. Die meisten davon sterben viel früher ab. Ein paar werden in den Hauptkörper des Virus aufgenommen. Aber jetzt kommt das interessanteste – es geschieht völlig freiwillig. Manchmal nimmt ein Virus einen Pfeil auf und bewahrt ihn, während die meisten anderen ihn wieder ablegen. Manchmal behalten die meisten Viren einen spezifischen Pfeil. Aber die Stelle, an der sie diese Pfeile in ihren Körper aufnehmen, ist genau diejenige, die am schwierigsten zu verzeichnen ist. Sie ist so schwierig zu verzeichnen, weil sie nicht Teil ihrer Struktur ist, sondern ihr Gedächtnis, und die einzelnen Viren sich alle voneinander unterscheiden. Sie neigen auch dazu, ein paar Erinnerungsfragmente auszusondern, wenn sie zu viele Pfeile aufgenommen haben.«
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