Doch alle Hemmer und Virizide beruhten auf denselben grundlegenden Prinzipien. Genau wie der Descolada-Virus gelernt hatte, sich im allgemeinen an die auf der Erde geborenen Gene anzupassen, würde er auch lernen, wie er mit den unterschiedlichen Chemikalien fertig würde, und dann spielte es keine Rolle mehr, wie viele neue Versionen sie hatten – die Descolada würde ihre Vorräte innerhalb von ein paar Tagen vernichten.
Nur ein paar Menschen wußten, wie unsicher das Überleben der Lusitania-Kolonie in Wirklichkeit war. Nur ein paar Menschen begriffen, wieviel von der Arbeit abhing, die Ela und Novinha als Lusitanias Xenobiologen leisteten; wie knapp ihr Wettlauf mit der Descolada war; wie verheerend die Folgen sein würden, gerieten sie jemals ins Hintertreffen.
Auch gut. Wenn die Kolonisten es wüßten, würden viele sagen: Wenn es unausweichlich ist, daß uns die Descolada eines Tages überwältigen wird, sollten wir sie jetzt auslöschen. Wir bedauern, daß dadurch alle Schweinchen sterben, doch wenn es heißt, wir oder sie, dann entscheiden wir uns für uns.
Es war gut und schön, daß Ender die Dinge langfristig betrachtete, aus der philosophischen Perspektive gewissermaßen, und sagte: Besser, eine kleine Menschenkolonie wird ausgelöscht, als daß eine ganze vernunftbegabte Rasse stirbt. Er wußte, daß er mit diesem Argument bei den Menschen auf Lusitania nichts erreichen konnte. Ihr eigenes Leben stand hier auf dem Spiel und das Leben ihrer Kinder; es wäre absurd, von ihnen die Bereitschaft zu erwarten, für eine andere Rasse in den Tod zu gehen, die sie nicht verstanden und die nur die wenigsten von ihnen überhaupt mochten. Es ergab genetisch keinen Sinn – die Evolution ermutigt nur Geschöpfe, die darauf bedacht sind, ihre eigenen Gene zu schützen. Selbst wenn der Bischof persönlich erklären würde, es sei der Wille Gottes, daß die Menschen von Lusitania ihr Leben für die Schweinchen aufgaben, würden ihm kaum jemand gehorchen.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich selbst solch ein Opfer bringen würde, dachte Ender. Obwohl ich keine Kinder habe. Obwohl ich bereits die Vernichtung einer bewußten Rasse miterlebt habe – obwohl ich diese Vernichtung selbst ausgelöst habe und weiß, welch eine schreckliche moralische Last das ist –, bin ich mir nicht sicher, ob ich meine Mitmenschen dem Tod ausliefern könnte.
Und doch – könnte ich der Vernichtung der Pequeninos zustimmen? Könnte ich einen weiteren Xenozid zulassen?
Er nahm einen der abgebrochenen Kartoffelstengel mit den fleckigen Blättern auf. Er würde ihn natürlich Novinha bringen müssen. Novinha – oder Ela – würde ihn untersuchen, und sie würden bestätigen, was bereits offensichtlich war. Noch ein Fehlschlag. Er steckte den Kartoffelstengel in einen sterilen Beutel.
»Sprecher.«
Es war Pflanzer, Enders Assistent und engster Freund unter den Schweinchen. Pflanzer war ein Sohn des Pequeninos namens Mensch, den Ender ins ›dritte Leben‹ geführt hatte, das Baumstadium des Lebenszyklus der Pequeninos. Ender hielt den durchsichtigen Plastikbeutel hoch, damit Pflanzer die Blätter darin sehen konnte.
»Wirklich sehr tot, Sprecher«, sagte Pflanzer ohne jede erkennbare Gefühlsregung. Das war am Anfang das Unangenehmste bei der Arbeit mit den Pequeninos gewesen – sie zeigten keine Gefühle, die die Menschen leicht und gewohnheitsmäßig deuten konnten. Diese Eigenschaft war ausschlaggebend dafür, daß die meisten Kolonisten die Schweinchen nicht akzeptierten. Die Schweinchen waren nicht niedlich oder süß; sie waren lediglich fremd.
»Wir versuchen es noch einmal«, sagte Ender. »Ich glaube, wir kommen der Sache näher.«
»Deine Gattin will dich sprechen«, sagte Pflanzer. Das Wort Gattin, selbst in eine Menschensprache wie Stark übersetzt, war für einen Pequenino so voller Spannungen, daß er das Wort kaum natürlich aussprechen konnte – Pflanzer kreischte es fast.
»Ich wollte sowieso gerade zu ihr«, sagte Ender. »Würdest du bitte diese Kartoffeln ausmessen und aufzeichnen?«
Pflanzer sprang buchstäblich hoch – wie ein Popcorn, dachte Ender. Obwohl sein Gesicht für menschliche Augen ausdruckslos blieb, drückte der vertikale Sprung seine Freude aus. Pflanzer arbeitete liebend gern mit der elektronischen Ausrüstung, weil Maschinen ihn faszinierten und es seinen Status unter den anderen männlichen Pequeninos beträchtlich erhöhte. Pflanzer schickte sich augenblicklich an, die Kamera und den dazugehörigen Computer aus der Tasche zu holen, die er immer bei sich trug.
»Wenn du fertig bist, bereitest du dieses Feld bitte für das Abblitzen vor«, sagte Ender.
»Ja, ja«, sagte Pflanzer. »Ja, ja, ja.«
Ender seufzte. Pequeninos ärgerten sich maßlos, wenn Menschen ihnen etwas sagten, was sie bereits wußten. Pflanzer kannte die Routine, die ablief, wenn die Descolada sich an eine neue Züchtung angepaßt hatte – der »gelehrige« Virus mußte vernichtet werden, solange er noch isoliert war. Sie mußten verhindern, daß sämtliche Descolada-Viren davon profitierten, was dieser Strang gelernt hatte. Und doch befriedigten die Menschen so ihr Verantwortungsgefühl – sie vergewisserten sich noch einmal, obwohl sie wußten, daß es überflüssig war.
Pflanzer war so beschäftigt, daß er kaum bemerkte, daß Ender das Feld verließ. Als Ender im Isolationsschuppen am Ende des Feldes war, das der Stadt am nächsten lag, zog er sich aus, steckte seine Kleidung in den Reinigungskasten und vollführte dann den Reinigungstanz – er streckte die Hände nach oben aus, ließ die Arme an den Schultern rotieren, drehte sich im Kreis, bückte sich und richtete sich wieder auf, damit kein Teil seines Körpers von der Kombination aus Strahlung und Gasen, die den Schuppen ausfüllte, verfehlt wurde. Er atmete tief durch Mund und Nase ein und hustete dann wie gewöhnlich, weil die Gase kaum in der menschlichen Toleranzschwelle lagen. Drei volle Minuten mit tränenden Augen und brennenden Lungen, während er mit den Armen winkte und sich hinhockte und wieder aufstand: ein Ritual des Gehorsams für die allmächtige Descolada. So erniedrigen wir uns vor dem unbestrittenen Herren des Lebens auf diesem Planeten.
Schließlich war er fertig. Als endlich frische Luft in den Schuppen strömte, nahm er seine noch warme Kleidung aus dem Kasten und zog sie an. Sobald er den Schuppen verlassen hatte, würde er sich aufheizen, bis die Temperatur weit über der erwiesenen Wärmetoleranzgrenze des Descolada-Virus lag. Diese letzte Stufe der Reinigung konnte nichts in dem Schuppen überstehen. Wenn beim nächsten Mal jemand den Schuppen betrat, würde er absolut steril sein.
Doch Ender konnte den Gedanken nicht verdrängen, daß der Descolada-Virus irgendwie einen Weg finden würde, durch den er schlüpfen konnte – wenn nicht durch den Schuppen, dann durch die leichte Disruptorbarriere, die die Felder mit den Experimentalpflanzen umgab wie eine unsichtbare Festungsmauer. Offiziell kam kein Molekül, das aus über einhundert Atomen bestand, durch diese Barriere, ohne aufgebrochen zu werden. Zäune auf beiden Seiten der Barriere verhinderten, daß sich sowohl Menschen als auch Schweinchen in die Todeszone verirrten – doch Ender hatte sich oft vorgestellt, wie es wäre, wenn doch jemand durch das Auflösungsfeld ginge. Wenn die Zellkernsäuren aufbrachen, würde jede einzelne Körperzelle augenblicklich absterben. Vielleicht würde der Körper seine Form behalten. Doch in Enders Vorstellung zerfiel er auf der anderen Seite der Barriere immer zu Staub, den der Wind wie Rauch davontrug, bevor er den Boden berührte.
Kopfzerbrechen bereitete Ender, daß das Auflösungsfeld auf demselben Prinzip beruhte wie das Molekular-Detachier-Gerät. Ursprünglich dazu konstruiert, gegen Sternenschiffe und Raketen eingesetzt zu werden, hatte Ender es vor dreitausend Jahren, als er die menschliche Kriegsflotte kommandierte, gegen den Heimatplaneten der Krabbler eingesetzt. Und dieselbe Waffe hatte der Sternenwege-Kongreß nun nach Lusitania geschickt. Jane zufolge hatte der Sternenwege-Kongreß bereits versucht, den Einsatzbefehl zu schicken. Sie hatte ihn abgeblockt, indem sie die Verkürzerkommunikation zwischen der Flotte und dem Rest der Menschheit unterbrochen hatte, doch man konnte nicht sagen, ob irgendein übereifriger Schiffskapitän, der in Panik geraten war, weil sein Verkürzer nicht mehr funktionierte, die Waffe nicht doch einsetzen würde, wenn er Lusitania erreicht hatte.
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