Die Würmer, Algen und Bakterien wurden keiner Verwandlung unterzogen. Bei Tests, die sie zuvor auf Lusitania durchgeführt hatten, hatte sich die blaue Lösung, die die Bakterien enthielt, unter dem Einfluß der Descolada gelb verfärbt; nun blieb sie blau. Auf Lusitania waren die winzigen Würmer schnell gestorben und als ergrauende Hüllen an die Oberfläche getrieben; nun wanden sie sich in der Flüssigkeit und blieben purpurbraun, eine Farbe, die zumindest bei ihnen Leben bedeutete. Und die Algen brachen nicht auseinander und lösten sich vollständig auf, sondern blieben als dünne Stränge und Ränke bestehen, die Leben bedeuteten.
»Dann haben wir es geschafft«, sagte Ender.
»Zumindest können wir hoffen«, sagte Ela.
»Setzt euch«, sagte Miro. »Wenn wir fertig sind, wird sie uns zurückbringen.«
Ender setzte sich. Er sah zu dem Sitz, auf dem Miro gesessen hatte. Sein alter, verkrüppelter Körper war nicht länger als menschlich zu identifizieren. Er zerfiel weiterhin; die Stücke zerbrachen zu Staub oder zerflossen. Selbst die Kleidung hatte sich aufgelöst.
»Er ist nicht mehr Teil meines Musters«, sagte Miro. »Ihn hält nichts mehr zusammen.«
»Was ist mit denen?« fragte Ender. »Warum lösen sie sich nicht auf?«
»Oder du?« fragte Peter. »Warum löst du dich nicht auf? Du bist jetzt überflüssig. Du bist ein müder alter Scheißer, der nicht mal seine Frau behalten kann. Und du hast nie ein Kind gezeugt, du pathetischer alter Eunuch. Mach Platz für einen echten Mann. Dich braucht jetzt keiner mehr – alles, was du je getan hast, hätte ich besser tun können, und alles, was ich je getan habe, hättest du niemals tun können.«
Ender schlug die Hände vors Gesicht. Dieses Ergebnis hatte er sich nicht einmal in seinen schlimmsten Alpträumen vorgestellt. Ja, er hatte gewußt, daß sie sich an einen Ort begaben, an dem man mit dem Verstand etwas erschaffen konnte. Aber es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß Peter noch immer dort lauerte. Er hatte geglaubt, er habe den alten Haß schon vor langer Zeit begraben.
Und Valentine – warum sollte er eine neue Valentine erschaffen? Eine so junge und perfekte, so schöne und freundliche? Die echte Valentine wartete auf Lusitania auf ihn – was würde sie denken, wenn sie sah, was er aus seinem Verstand geschaffen hatte? Vielleicht würde es sie schmeicheln, daß er sie so nah an seinem Herzen hielt; doch sie würde auch wissen, daß er sie schätzte, wie sie früher einmal gewesen war, und nicht, wie sie heute war.
Sowohl das dunkelste als auch das hellste Geheimnis seines Herzens würden enthüllt werden, sobald sich die Tür öffnete und er wieder auf die Oberfläche Lusitanias treten mußte.
»Löst euch auf«, sagte er zu ihnen.
»Du zuerst, alter Mann«, sagte Peter. »Dein Leben ist vorbei, und meins beginnt gerade erst. Beim ersten Mal hatte ich nur die Erde, einen müden alten Planeten – es wäre mir genauso leicht gefallen wie jetzt, nach dir zu greifen und dich mit bloßen Händen zu töten, wenn ich es wollte. Dir den Nacken zu brechen wir eine trockene Nudel.«
»Versuche es«, flüsterte Ender. »Ich bin nicht mehr der verängstigte kleine Junge.«
»Aber du bist auch kein Gegner für mich«, sagte Peter. »Du warst es nie und wirst es niemals sein. Du hast zu viel Herz. Du bist wie Valentine. Du zuckst davor zurück, das zu tun, was getan werden muß. Das macht dich weich und schwach. Dadurch kann man dich leicht vernichten.«
Ein plötzlicher Lichtblitz. Doch noch der Tod im Außen-Raum? Hatte Jane das Muster in ihrem Geist verloren? Explodierten sie, oder stürzten sie in eine Sonne?
Nein. Es war die sich öffnende Tür. Es war das Licht des Lusitania-Morgens, das in die relative Dunkelheit im Schiffsinneren fiel.
»Kommt ihr heraus?« rief Grego und steckte den Kopf ins Schiff. »Seid ihr…«
Dann sah er sie. Ender bemerkte, wie er stumm zählte.
»Nossa Senhore«, flüsterte Grego. »Woher zum Teufel kommen die denn?«
»Aus Enders total verkorkstem Kopf«, sagte Peter.
»Aus alten und zärtlichen Erinnerungen«, sagte die neue Valentine.
»Hilf mir mit den Viren«, sagte Ela.
Ender streckte die Hand nach ihnen aus, doch sie gab sie Miro. Sie erklärte es ihm nicht, wandte einfach den Kopf ab, doch er verstand. Was ihnen im Außen zugestoßen war, war zu seltsam, als daß sie es akzeptieren konnte. Wer auch immer Peter und diese junge, neue Valentine sein mochten, es sollte sie nicht geben. Miros Schöpfung eines neuen Körpers für ihn ergab Sinn, auch wenn es schrecklich gewesen war, den alten Körper zu einem vergessenen Nichts zerfallen zu sehen. Elas Konzentration war so groß gewesen, daß sie außer den Reagenzgläsern, die sie zu diesem Zweck mitgenommen hatte, nichts geschaffen hatte. Doch Ender hatte zwei ganze Menschen heraufbeschworen, die auf ihre Weise jeweils anrüchig waren – die neue Valentine, weil sie die echte verhöhnte, die sicherlich draußen vor der Tür wartete. Und Peter gelang es mühelos, anrüchig zu sein, während er erst langsam zu der Hochform dessen auflief, was ihn gleichzeitig so gefährlich wie auch charismatisch machte.
»Jane«, flüsterte Ender. »Jane, bist du da?«
»Ja«, antwortete sie.
»Hast du das alles gesehen?«
»Ja«, antwortete sie.
»Verstehst du es?«
»Ich bin sehr müde. Ich war noch nie müde. Ich habe noch nie etwas so Schweres getan. Es hat meine gesamte… meine gesamte Aufmerksamkeit auf einmal beansprucht. Und zwei weitere Körper, Ender. Mich dazu zu bringen, sie in das Muster einzufügen – ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe.«
»Ich wollte es nicht.«
Aber sie antwortete nicht.
»Kommst du nun, oder was?« fragte Peter. »Die anderen sind alle schon zur Tür hinaus. Mit all diesen kleinen Urinfläschchen.«
»Ender, ich habe Angst«, sagte die junge Valentine. »Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Ender. »Gott verzeihe mir, falls ich dir irgendwie weh tue. Ich hätte dich niemals zurückgebracht, um dir weh zu tun.«
»Ich weiß«, sagte sie.
»Nein«, sagte Peter. »Der nette alte Ender beschwört eine mannbare junge Frau aus seinem Gehirn herauf, die genau aussieht wie seine Schwester im Teenageralter. Ender, alter Junge, sind deiner Verderbtheit denn keine Grenzen gesetzt?«
»Lediglich ein schändlich kranker Geist würde an so etwas auch nur denken«, murmelte Ender.
Peter lachte.
Ender nahm die junge Val an der Hand und führte sie zur Tür hinaus. Er fühlte, wie ihre Hand schwitzte und zitterte. Sie fühlte sich so echt an. Sie war echt. Und doch konnte er, kaum daß er auf der Schwelle stand, die echte Valentine sehen, in mittlerem Alter, nicht mehr jung, doch noch immer die anmutige, wunderschöne Frau, die er all diese Jahre lang gekannt und geliebt hatte. Das ist die wahre Schwester, die, die ich so liebe wie mich selbst. Was hatte dieses junge Mädchen in meinem Geist zu suchen?
Grego und Ela mußten genug gesagt haben, daß die Leute wußten, daß etwas Seltsames geschehen war. Und als Miro das Schiff verlassen hatte, gesund und lebhaft, mit klarer Aussprache und so freudig erregt, daß er fast gesungen hätte – das mußte wirklich zu einiger Aufregung geführt haben. Ein Wunder. Es gab Wunder dort draußen, wo auch immer das Schiff gewesen war.
Doch als Ender herauskam, verstummte die Menge. Nur wenige hätten das junge Mädchen, das bei ihm war, auf den ersten Blick als Valentine in ihrer Jugend erkannt – keiner von ihnen hatte sie damals gekannt. Und keiner außer Valentine würde Peter Wiggin im kräftigen jungen Mannesalter erkennen; bei den Bildern in den Geschichtswerken handelte es sich normalerweise um Holos, die erst spät in seinem Leben aufgenommen worden waren, als sich die billige Holographie endlich durchgesetzt hatte.
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