»Amen«, sagte Ender. »Und wenn du jetzt bereit bist, Jane, können wir loslegen.«
Vor dem kleinen Sternenschiff warteten die anderen. Was erwarteten sie? Daß das Schiff anfangen würde zu qualmen und zu rütteln? Daß es einen Donnerschlag, einen Lichtblitz geben würde?
Das Schiff war da. Es war da und noch immer da, bewegte sich nicht, veränderte sich nicht. Und dann war es verschwunden.
Im Schiff fühlten sie nichts, als es geschah. Es gab kein Geräusch, keine Bewegung, die andeutete, daß sie vom Innen- in den Außen-Raum geglitten waren.
Doch sie wußten, in welchem Augenblick es geschah, denn plötzlich waren sie nicht mehr zu dritt, sondern zu sechst.
Ender stellte fest, daß er neben einem jungen Mann und einer jungen Frau saß. Aber er hatte keine Zeit, sie anzusehen, denn er konnte nur den jungen Mann anstarren, der in dem gerade noch leeren Sitz ihm gegenüber saß.
»Miro«, flüsterte er. Denn um ihn handelte es sich. Aber nicht um den Krüppel Miro, den mißgestalteten jungen Mann, der das Schiff mit ihm betreten hatte. Der saß noch immer auf dem zweiten Sessel links von Ender. Dieser Miro war der junge Mann, dem Ender zuerst begegnet war. Der Mann, dessen Stärke die Hoffnung seiner Familie, dessen Schönheit der Stolz von Ouandas Leben gewesen war, dessen Verstand und Herz Mitgefühl an den Pequeninos genommen und der sich geweigert hatte, sie ohne die Vorzüge zurückzulassen, die ihnen seiner Meinung zufolge die menschliche Kultur anbieten konnte. Miro, ganz und wiederhergestellt.
Woher war er gekommen?
»Ich hätte es wissen müssen«, sagte Ender. »Wir hätten daran denken müssen. Das Muster, das du von dir im Sinn hast, Miro – es ist nicht das, was du bist, sondern das, was du warst.«
Der neue, junge Miro hob die Hand und lächelte Ender an. »Ich habe daran gedacht«, sagte er, und seine Aussprache war klar und wunderschön. Die Worte rollten ganz leicht von seiner Zunge. »Ich habe darauf gehofft. Deshalb habe ich Jane auch gebeten, mich mitzunehmen. Und es erwies sich als wahr, Ender. Genau, wie ich es mir gewünscht habe.«
»Aber jetzt gibt es zwei von euch«, sagte Ela. Sie klang entsetzt.
»Nein«, sagte der neue Miro. »Nur mich. Nur das wahre Mich.«
»Aber der andere ist auch noch da«, sagte sie.
»Nicht mehr lange, glaube ich«, erwiderte Miro. »Diese alte Hülle ist jetzt leer.«
Und es stimmte. Der alte Miro sackte wie ein Toter in seinem Sitz zusammen. Ender kniete vor ihm nieder, drückte die Finger auf Miros Hals und fühlte nach dem Puls.
»Warum sollte sein Herz noch schlagen?« sagte Miro. » Ich bin der Ort, in dem sich Miros Aiua befindet.«
Als Ender den Finger von der Kehle des alten Miro nahm, löste sich die Haut. Ender schreckte zurück. Der Kopf fiel von den Schultern auf den Schoß der Leiche. Dann zerfiel er zu einer weißlichen Flüssigkeit. Ender sprang auf und wich zurück. Er trat jemandem auf den Fuß.
»Au«, sagte Valentine.
»Paß auf, wohin du trittst«, sagte ein Mann.
Valentine ist nicht an Bord, dachte Ender. Und ich kenne auch die Stimme dieses Mannes.
Er drehte sich zu ihnen um, zu dem Mann und der Frau, die auf den leeren Sitzen neben ihm erschienen waren.
Valentine. Unmöglich jung. So, wie sie ausgesehen hatte, als er sie am meisten geliebt und gebraucht hatte, als sie der einzige Grund für ihn war, mit seiner militärischen Ausbildung weiterzumachen; als sie der einzige Grund war, der ihm einfiel, warum Welt vielleicht doch die Mühe wert war, sie zu retten.
»Du kannst nicht wirklich sein«, sagte er.
»Natürlich bin ich das«, sagte sie. »Du hast mir doch auf den Fuß getreten, nicht wahr?«
»Armer Ender«, sagte der junge Mann. »Unbeholfen und dumm. Wirklich keine sehr gute Kombination.«
Jetzt erkannte Ender ihn. »Peter«, sagte er. Sein Bruder, der Feind aus seiner Kindheit, etwa in dem Alter, als er zum Hegemon geworden war. Das Bild, das auf allen Vids gezeigt worden war, als es Peter gelungen war, die Dinge so zu arrangieren, daß Ender nach seinem großen Sieg nie mehr auf die Erde zurückkehren durfte.
»Ich dachte, ich würde dich nie mehr von Angesicht zu Angesicht sehen«, sagte Ender. »Du bist vor so langer Zeit gestorben.«
»Glaube niemals ein Gerücht über meinen Tod«, sagte Peter. »Ich habe so viele Leben wie eine Katze. Und auch so viele Zähne, so viele Klauen und dieselbe fröhliche, kooperative Einstellung.«
»Woher bist du gekommen?«
Miro gab die Antwort. »Da du sie kennst, Ender, müssen sie Mustern in deinem Geist entstammen, Ender.«
»Das stimmt«, sagte Ender. »Aber warum? Wir nehmen angeblich die Vorstellung von uns selbst mit nach hier draußen. Das Muster, durch das wir selbst uns erkennen.«
»Ist dem so, Ender?« sagte Peter. »Dann mußt du wirklich etwas ganz Besonderes sein. Eine Persönlichkeit, die so kompliziert ist, daß man zwei Menschen braucht, um sie auszufüllen.«
»Von dir ist kein Teil in mir«, sagte Ender.
»Und du sorgst besser auch dafür, daß es so bleibt«, sagte Peter höhnisch. »Ich mag Mädchen, keine schmutzigen, alten Männer.«
»Ich wollte dich nicht haben«, sagte Ender.
»Mich wollte nie jemand haben«, sagte Peter. »Sie wollten dich. Aber sie haben mich bekommen, nicht wahr? Sie haben mich hierhin bekommen. Glaubst du, ich würde nicht meine ganze Geschichte kennen? Du und dieses Lügenbuch, Der Hegemon. So klug und verständnisvoll. Wie Peter Wiggin herangereift ist. Wie er sich als weiser und fairer Herrscher erwies. Was für ein Witz! In der Tat, ein Sprecher für die Toten. Als du das Buch geschrieben hast, kanntest du die ganze Zeit über die Wahrheit. Du hast das Blut posthum von meinen Händen gewaschen, Ender, aber du wußtest, und ich wußte, daß ich, solange ich lebte, das Blut dort haben wollte.«
»Laß ihn in Ruhe«, sagte Valentine. »Er hat im Hegemon die Wahrheit gesagt.«
»Du beschützt ihn noch immer, kleiner Engel?«
»Nein!« rief Ender. »Ich bin fertig mit dir, Peter. Du bist aus meinem Leben verschwunden, schon vor dreitausend Jahren!«
»Du kannst davonlaufen, aber du kannst dich nicht verstecken!«
»Ender! Ender, hör auf! Ender!«
Er drehte sich um. Es war Ela, die ihn angeschrien hatte.
»Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber hör auf damit! Wir haben nur noch ein paar Minuten übrig. Hilf mir bei den Tests.«
Sie hatte recht. Was immer Miros neuer Körper zu bedeuten hatte, Peters und Valentines Auftauchen, wichtig war die Descolada. War es Ela gelungen, sie umzuwandeln? Die Recolada zu erschaffen? Und der Virus, der die Menschen von Weg verwandeln würde? Falls Miro seinen Körper neu gestalten und Ender irgendwie die Geister seiner Vergangenheit heraufbeschwören und sie wieder zu Fleisch und Blut machen konnte, war es möglich, wirklich möglich, daß Elas Reagenzgläser nun die Viren enthielten, deren Muster sie sich vorgestellt hatte.
»Hilf mir«, flüsterte Ela erneut.
Ender und Miro – der neue Miro, dessen Hand stark und sicher war – nahmen die Reagenzgläser, die sie ihnen reichte, und begannen mit dem Test. Es war ein negativer Test – wenn die Bakterien, Algen und winzigen Würmer, die sie in die Gläser gaben, mehrere Minuten lang unbeeinflußt blieben, befand sich keine Descolada in den Gläsern. Da es in den Reagenzgläsern vor dem lebenden Virus gewimmelt hatte, als sie das Schiff bestiegen hatten, war der Beweis erbracht, daß zumindest irgend etwas geschehen war, das sie neutralisiert hatte. Ob es nun wirklich die Recolada war oder einfach nur eine tote oder unwirksame Descolada, konnten sie nur nach ihrer Rückkehr feststellen.
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