Er hielt sie noch viele Minuten lang, bis sie an seiner Schulter einschlief. Dann legte er sie wieder auf ihre Matte und zog sich in seine eigene Ecke zurück, zum ersten Mal seit vielen Tagen mit Hoffnung im Herzen.
Als Valentine zum Gefängnis ging, um Grego zu besuchen, sagte Bürgermeister Kovano ihr, daß Olhado bei ihm war. »Hat Olhado denn keine Schicht?«
»Das meinen Sie doch nicht ernst«, sagte Kovano. »Er ist ein guter Schichtleiter in der Ziegelei, doch die Rettung der Welt dürfte schon wert sein, daß ein anderer ihn einen Nachmittag lang vertritt.«
»Schrauben Sie Ihre Erwartungen nicht zu hoch«, sagte Valentine. »Ich wollte, daß er sich beteiligt. Ich hoffe, daß er uns helfen kann. Aber er ist kein Physiker.«
Kovano hob die Schultern. »Ich bin auch kein Kerkermeister, handle aber, wie die Situation es verlangt. Ich habe keine Ahnung, ob es damit zu tun hat, daß Olhado bei ihm ist oder Ender vor kurzem bei ihm war, aber ich habe noch nie lautere Stimmen und größere Aufregung in der Zelle vernommen – jedenfalls nicht, wenn die Insassen nüchtern waren. Natürlich werden in dieser Stadt die meisten Menschen wegen Trunkenheit eingesperrt.«
»Ender war hier?«
»Direkt nach seinem Besuch bei der Schwarmkönigin. Er möchte mit Ihnen sprechen. Er wußte nicht, wo Sie waren.«
»Na schön, ich gehe zu ihm, wenn ich hier fertig bin.« Sie war bei ihrem Mann gewesen. Jakt schickte sich an, mit dem Shuttle ins All zurückzukehren, sein eigenes Schiff für einen schnellen Aufbruch vorzubereiten und festzustellen, ob das ursprüngliche Kolonieschiff Lusitanias nach so vielen Jahrzehnten ohne Wartung des Sternenantriebs für einen weiteren Flug wiederhergestellt werden konnte. Es war lediglich zur Unterbringung von Samen, Genen und Embryos erdgeborener Spezies benutzt worden. Jakt würde mindestens eine Woche lang fort sein, vielleicht sogar länger, und Valentine konnte ihn schlecht gehen lassen, ohne vorher etwas Zeit mit ihm zu verbringen. Er wußte natürlich, unter welch schrecklichem Druck alle standen, und hätte Verständnis gehabt – doch Valentine wußte auch, daß sie keine der Schlüsselfiguren dieser Ereignisse war. Sie würde erst später nützlich sein, wenn sie alles niederschrieb.
Doch nachdem sie Jakt verlassen hatte, war sie nicht direkt zum Büro des Bürgermeisters gegangen, um Grego zu besuchen. Sie hatte einen Spaziergang durch die Stadt gemacht. Kaum vorstellbar, daß sich hier vor kurzer Zeit wütend und betrunken der Mob gebildet und in einen mörderischen Zorn gesteigert hatte. Jetzt war es so still hier. Sogar das Gras hatte sich erholt und wieder aufgerichtet, abgesehen von einem Schlammloch, wo es nicht mehr wachsen wollte.
Doch es war nicht friedlich hier. Ganz im Gegenteil. Als Valentine hier eingetroffen und die Stadt wirklich friedlich gewesen war, hatte es hier im Herzen der Kolonie den ganzen Tag über vor Leben und Geschäftigkeit geradezu gesummt. Nun waren nur ein paar Menschen unterwegs, doch sie wirkten verdrossen, fast wie Flüchtlinge. Sie hielten die Köpfe gesenkt und richteten die Blicke auf den Boden vor ihren Füßen, als habe jeder Angst, auf die Nase zu fallen, wenn er nicht aufpaßte, wohin er ging.
Ein Teil der Verdrossenheit resultiert wahrscheinlich aus der Scham, dachte Valentine. Mittlerweile wies jedes Gebäude in der Stadt ein Loch auf, wo man Steine oder Ziegel herausgebrochen hatte, um sie für den Bau der Kapelle zu verwenden. Viele der Löcher waren von der Praca aus zu sehen, auf der Valentine ging.
Sie vermutete jedoch, daß eher die Furcht als die Scham das vibrierende Leben hier abgetötet hatte. Niemand sprach offen darüber, doch sie erhaschte genug verstohlene Blicke zu den Hügeln im Norden der Stadt, um Bescheid zu wissen. Es war nicht die Scham über das Niederbrennen des Pequenino-Waldes. Es waren die Krabbler. Die dunklen Gestalten waren nur selten auf den Hügeln oder im Gras draußen vor der Stadt zu sehen. Es waren die Alpträume der Kinder, die sie gesehen hatten. Das widerwärtige Entsetzen in den Herzen der Erwachsenen. Historische Romane und Videos, die zu den Zeiten der Krabblerkriege spielten, waren in der Bibliothek ständig ausgeliehen; die Leute waren besessen davon, Menschen zu sehen, die Siege über Krabbler errungen. Und während sie zusahen, gaben sie ihren schlimmsten Träumen Nahrung. Bei vielen Leuten, wenn nicht sogar den meisten, war die theoretische Vorstellung, die Schwarmkultur sei wunderschön und würdig und das Bild, das Ender in seinem ersten Buch von der Schwarmkönigin gezeichnet hatte, verschwunden, während sie in der unausgesprochenen Einkerkerung lebten, die von den Arbeitern der Schwarmkönigin durchgesetzt wurde.
War unsere Arbeit schließlich doch völlig vergeblich? dachte Valentine. Ich, der Philosoph Demosthenes, habe versucht, die Menschen zu lehren, daß sie nicht alle Außerirdischen fürchten müssen, sondern sie als Ramänner sehen können. Und Ender mit seinen eindringlichen Büchern über die Schwarmkönigin, den Hegemon und Menschs Leben – welche Macht hatten sie wirklich, verglichen mit dem instinktiven Schrecken beim Anblick dieser gefährlichen, übergroßen Insekten? Die Zivilisation ist nur ein Vorwand; in einer Krise werden wir wieder zu bloßen Affen, vergessen wir die rationalen Zweifüßler, die wir angeblich sind, und werden wieder zu den haarigen Primaten an der Höhlenöffnung, die den Feind anschreien, sich wünschen, er würde verschwinden, und den schweren Stein umklammern, den wir in dem Augenblick benutzen werden, da er in Reichweite kommt.
Nun war sie wieder an einem sauberen, sicheren Ort, nicht ganz so beunruhigend, auch wenn er als Gefängnis wie auch als Hauptsitz der Stadtverwaltung diente. An einem Ort, wo die Krabbler als Verbündete gesehen wurden – oder zumindest als unerläßliche Friedenstruppe, die die Antagonisten zu ihrem gegenseitigen Schutz voneinander trennte. Es gibt Menschen, erinnerte sich Valentine, die sich über ihre tierische Abstammung erheben können.
Als sie die Zellentür öffnete, lagen Olhado wie auch Grego auf Pritschen. Sie hatten Papiere auf dem Boden und dem Tisch zwischen ihnen ausgebreitet; sie bedeckten sogar das Computerterminal, so daß das Display, falls das Gerät eingeschaltet war, nicht funktionieren konnte. Es sah aus wie das typische Kinderzimmer eines Teenagers. Grego hatte die Beine gegen die Wand gelehnt. Seine nackten Füße tanzten einen seltsamen Rhythmus, zuckten in der Luft hin und her. Was für eine innere Musik hörte er?
»Boa tarde, Tia Valentina«, sagte Olhado.
Grego sah nicht einmal auf.
»Störe ich?«
»Sie kommen gerade rechtzeitig«, sagte Olhado. »Wir sind drauf und dran, ein neues Konzept für das Universum zu entwickeln. Wir haben gerade das erleuchtende Prinzip entdeckt, daß man sich einfach alles wünschen kann und Lebewesen aus dem Nichts fallen, wenn sie gerade gebraucht werden.«
»Wenn man sich einfach alles wünschen kann«, sagte Valentine, »könnten wir uns ja auch den Überlichtflug wünschen.«
»Grego rechnet gerade herum«, sagte Olhado, »deshalb reagiert er im Augenblick nicht auf Sie. Aber ich glaube, er ist da einer Sache auf der Spur – vor einer Minute hat er geschrien und herumgetanzt. Wir hatten eine Nähmaschinenerfahrung.«
»Ah ja«, sagte Valentine.
»Das ist eine alte Geschichte aus der Physikklasse«, sagte Olhado. »Leute, die eine Nähmaschine erfinden wollten, sind immer wieder gescheitert, weil sie versuchten, die Bewegungen des Nähens mit der Hand zu imitieren. Sie stießen die Nadel durch das Gewebe und zogen den Faden durch das Öhr am Ende der Nadel hinterher. Das schien ja ganz offensichtlich zu sein. Bis dann jemand auf die Idee kam, das Öhr am Kopf der Nadel anzubringen und zwei Fäden statt nur einem zu benutzen. Ein völlig unnatürlicher, indirekter Annäherungsversuch, wenn man es so will, den ich noch immer nicht verstehe.«
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