Jiang-qing hätte mich auch verlassen, dachte Han Fei-tzu. Auch wenn ich kein Witwer wäre, wäre ich an diesem Tag ohne Frau.
Die einzige Gefährtin, die mir geblieben ist, ist dieses Dienstmädchen, das sich gerade rechtzeitig in meinen Haushalt gedrängt hat, um nun zum einzigen Aufflackern von Hoffnung in meinem dunklen Herzen zu werden.
Nicht meine Tochter-des-Körpers, doch vielleicht wird die Zeit und Gelegenheit kommen, wenn diese Krise vorbei ist, um Wang-mu zu meiner Tochter-des-Geistes zu machen. Meine Arbeit für den Kongreß ist beendet. Sollte ich dann nicht ein Lehrer mit einer einzigen Schülerin sein? Sollte ich sie nicht darauf vorbereiten, die Revolutionärin zu sein, die das gewöhnliche Volk zur Freiheit von der Tyrannei der Gottberührten und dann Weg zur Freiheit vom Kongreß führen kann? Sollte sie so eine werden, kann ich in Frieden sterben, im Bewußtsein, daß ich am Ende meines Lebens all meine frühere Arbeit aufgehoben habe, die den Kongreß gestärkt und dazu beigetragen hat, daß er jede Opposition seiner Macht überwinden konnte.
Das leise Atmen des Mädchens war wie sein eigener Atem, wie das Geräusch einer Brise im hohen Gras. Sie ist ganz Bewegung, Hoffnung, Frische.
»Han Fei-tzu, ich glaube, du schläfst nicht.«
Nein; aber er hatte vor sich hingedöst, und der Klang von Janes Stimme, der aus dem Computer kam, erschreckte ihn, als habe er ihn aufgeweckt.
»Nein, aber Wang-mu schläft«, sagte er.
»Dann wecke sie.«
»Warum? Sie hat ihren Schlaf verdient.«
»Sie hat es auch verdient, dies zu hören.«
Elas Gesicht erschien im Display neben Jane. Han Fei-tzu erkannte sie sofort als die Xenobiologin, der man die Untersuchung der genetischen Proben anvertraut hatte, die er und Wang-mu gesammelt hatten. Es mußte einen Durchbruch gegeben haben.
Er verbeugte sich, griff nach dem schlafenden Mädchen und schüttelte es. Wang-mu bewegte und streckte sich, erinnerte sich dann zweifellos an ihre Pflichten und setzte sich kerzengerade auf. »Habe ich verschlafen? Was ist los? Vergebt mir, daß ich eingeschlafen bin, Meister Han.«
Sie hätte sich in ihrer Verwirrung vielleicht sogar verbeugt, doch das ließ Fei-tzu nicht zu. »Jane und Ela haben mich gebeten, dich aufzuwecken. Sie möchten, daß du etwas hörst.«
»Ich möchte Ihnen zuerst sagen«, ergriff Ela das Wort, »daß das, worauf wir gehofft haben, möglich ist. Die genetischen Veränderungen waren grobschlächtig und leicht festzustellen – ich verstehe nun, warum der Kongreß alles getan hat, um zu verhindern, daß gute Genetiker mit der menschlichen Bevölkerung von Weg arbeiten. Das UZV-Gen war nicht an der normalen Stelle, was der Grund dafür ist, daß es nicht augenblicklich von Natologen identifiziert wurde, doch es arbeitet fast genauso wie die in der Natur vorkommenden UZV-Gene. Es kann problemlos separat von den Genen behandelt werden, die den Gottberührten ihre verstärkten intellektuellen und kreativen Fähigkeiten geben. Ich habe bereits ein Spleißerbakterium entwickelt, das ins Blut einer Person injiziert werden kann. Es wird eine Samen- oder Eizelle der Person suchen, in sie eindringen, das UZV-Gen entfernen und mit einem normalen ersetzen, wobei es den Rest des genetischen Codes unberührt läßt. Dann wird es schnell absterben. Es basiert auf einem häufig vorkommenden Bakterium, das es bereits in zahlreichen Laboratorien auf Weg geben wird, die sich mit normaler Immunologie und der Verhinderung von Geburtsdefekten befassen. In Zukunft kann also jeder Gottberührte, der das möchte, Kinder bekommen, bei denen das UZV-Gen nicht mehr vorhanden ist.«
Han Fei-tzu lachte. »Ich bin der einzige auf diesem Planeten, der sich solch ein Bakterium wünscht. Die Gottberührten haben kein Mitleid mit sich selbst. Ihr Leid erfüllt sie mit Stolz. Es gibt ihnen Ehre und Macht.«
»Dann will ich Ihnen sagen, was wir noch gefunden haben. Einer meiner Assistenten, ein Pequenino namens Glas, hat es herausgefunden – ich gestehe ein, daß ich diesem Projekt keine große Aufmerksamkeit widmete, da es mir im Vergleich mit dem Descolada-Problem, an dem wir arbeiten, relativ einfach vorkam.«
»Entschuldigen Sie sich nicht«, sagte Fei-tzu. »Wir sind für jede Freundlichkeit dankbar. Und sie ist unverdient.«
»Ja.« Sie schien durch seine Höflichkeit verwirrt. »Jedenfalls hat Glas herausgefunden, daß sich alle bis auf eine der genetischen Proben, die Sie uns geschickt haben, sauber in die Kategorien gottberührt und nicht-gottberührt aufteilen lassen. Wir führten den Test blind durch und verglichen die Ergebnisse erst später mit der Namensliste, die Sie uns gegeben haben. Die Übereinstimmung war perfekt. Jeder Gottberührte hat das veränderte Gen. Keiner, bei dem das Gen nicht auftrat, steht auf Ihrer Liste der Gottberührten.«
»Bis auf eine Ausnahme, haben Sie gesagt.«
»Das hat uns verblüfft. Glas geht sehr methodisch vor – er hat die Geduld eines Baums. Er war überzeugt, daß es sich bei dieser Ausnahme um einen Schreibfehler oder einen Fehler bei der Auswertung der Daten handelte. Er überprüfte die Sache mehrmals und ließ sie auch von anderen Assistenten überprüfen. Es besteht kein Zweifel. Bei dieser einen Ausnahme handelt es sich eindeutig um eine Mutation des Gottberührten-Gens. Dort fehlt das UZV auf natürliche Art und Weise, während alle anderen Eigenschaften, die die Genetiker des Kongresses so sorgfältig eingegeben haben, erhalten geblieben sind.«
»Also ist diese Person schon das, was Ihr Spleißbakterium schaffen soll.«
»Es gibt noch ein paar weitere mutierte Regionen, bei denen wir uns im Augenblick noch nicht ganz sicher sind, aber sie haben nichts mit dem UZV oder den Verbesserungen zu tun. Und sie berühren auch keinerlei lebenswichtige Prozesse, so daß diese Person gesunden Nachwuchs bekommen wird, der diese Verbesserungen weitervererben kann. Falls diese Person sich mit einer paart, die mit dem Spleißerbakterium behandelt wurde, werden sämtliche Kinder mit fast hundertprozentiger Sicherheit über die Verbesserungen verfügen, und es besteht keine Gefahr, daß eins davon am UZV leidet.«
»Dann kann er sich glücklich schätzen«, sagte Han Fei-tzu.
»Wer ist es?« fragte Wang-mu.
»Du«, erwiderte Ela. »Si Wang-mu.«
»Ich?« Sie schien fassungslos.
Aber Han Fei-tzu war nicht verblüfft. »Ha!« rief er. »Ich hätte es wissen müssen! Ich hätte darauf kommen müssen! Kein Wunder, daß du so schnell gelernt hast wie früher meine Tochter. Kein Wunder, daß du Einsichten hattest, die uns weitergeholfen haben, obwohl du kaum verstanden hast, um welches Thema es ging. Du bist auch eine Gottberührte, Wang-mu – aber du allein bist frei von den Ketten des Säuberungsrituals.«
Si Wang-mu kämpfte um eine Antwort, doch statt Worten kamen Tränen. Sie weinte stumm.
»Nie wieder werde ich dir erlauben, mich wie einen Höherstehenden zu behandeln«, sagte Han Fei-tzu. »Von nun an bist du keine Dienerin in meinem Haus, sondern meine Schülerin, meine junge Kollegin. Sollen die anderen von dir denken, was sie wollen. Wir wissen, daß du so fähig wie alle anderen bist.«
»Wie Herrin Qing-jao?« flüsterte Wang-mu.
»Wie jeder andere auch«, sagte Fei-tzu. »Die Höflichkeit wird von dir verlangen, dich vor vielen zu verbeugen. Doch im Herzen mußt du dich vor niemandem verbeugen.«
»Ich bin unwürdig«, sagte Wang-mu.
»Jeder ist seiner eigenen Gene würdig. Bei so einer Mutation bestand eine hohe Chance, daß sie dich geschädigt zurückläßt. Doch statt dessen hat sie dich zum gesündesten Menschen auf der ganzen Welt gemacht.«
Aber sie hörte nicht auf, still vor sich hinzuweinen.
Jane mußte es Ela gezeigt haben, denn sie schwieg eine Weile. Schließlich ergriff sie jedoch das Wort. »Verzeihung, aber ich habe viel zu tun«, sagte sie.
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