»Wie weit ist es noch?«
»Etwa fünfhundert Kilometer Luftlinie, aber ich hab keine Ahnung, wie lang das auf der Straße dauert.«
»Ist… weiß Papi eigentlich, daß wir kommen?«
»Gewissermaßen.«
»Möchte er es?«
»Ich denke schon«, sagte Jeri. Er hat nicht nein gesagt! »Gib mir etwas Kaffee aus der Thermosflasche. Dann geht es gleich weiter.«
Jeri ließ den Wagen in Fahrstufe eins des Automatikgetriebes die gewundene Straße durch die Rocky Mountains hinabrollen. Die Straße war nahezu verlassen. Melissa hatte sich auf dem Rücksitz zum Schlafen hingelegt.
Die Great Plains dehnten sich endlos vor ihnen. Jeri stellte den Wählhebel der Getriebeautomatik auf N und schoß mit hundert Stundenkilometern im Leerlauf auf die große Ebene zu.
Es war ein wolkenloser Tag. Hinter ihr schienen die langsam zurückweichenden Rocky Mountains eher größer zu werden. Sie wirkten wie eine Mauer.
Jeri zuckte zusammen, als sie merkte, daß Melissa ihr über die Schulter sah. »Wenn die Benzinuhr leer ist, wieviel hast du dann noch?« sagte Melissa.
»Ich weiß nicht. Vielleicht zehn, zwölf Liter?«
Bald würden sie keinen Sprit mehr haben. Sie mußten versuchen, so weit wie möglich zu kommen. Vielleicht gab es Benzin ab der nächsten Tankstelle, wo auch immer die liegen mochte…
Im Rückspiegel zeigte sich ein Licht, grell wie ein Fernscheinwerfer. Jeri schlug den Spiegel beiseite und schrie: »Nicht hinsehen, Melissa! Leg dich auf den Boden!« Sie hoffte, das Kind werde gehorchen und wünschte, sie könne sich auch einfach hinwerfen. Sie bremste scharf und fuhr an den Straßenrand. Melissa sagte: »Was…?«
WAMM! Die Trommelfelle schienen zu platzen, der Wagen schwankte, die Heckscheibe barst und wurde undurchsichtig. Jeri hatte erwartet, daß das Glas zersplitterte und Scherben ihr Hinterkopf und Hals zerschnitten. In den Nachrichten hatte sie von Bomben gehört, die auf die Sperrmauern von Wasserkraftwerken gefallen waren, auf Eisenbahnen und wichtige Überlandstraßen. George und Vicki TateEvans hatten ihr (abwechselnd und so, daß niemand sie unterbrechen konnte) erzählt, woran man einen Atomblitz erkennt und wie man ihn überlebt.
Wenn alles um dich herum grell aufleuchtet, sieh nicht hin. Laß dich zu Boden fallen. Umschließ die Schienbeine mit den Händen und steck den Kopf zwischen die Knie, als wolltest du dich in den Hintern beißen. Hinter ihr kippte ein schwerer Sattelschlepper um, der ihr fast auf der Stoßstange gefolgt war, glitt vorbei, eine Funkenspur auf dem Straßenbelag ziehend, und kam irgendwo vor ihrem Wagen zum Stillstand.
»‘ne Atombombe«, sagte Melissa beeindruckt.
»Bleib unten!«
»Bin ich ja.«
Der Sattelschlepper hatte Feuer gefangen.
Jeri wartete auf das leisere WAMM!, auf die zweite Druckwelle, mit der die Luft das Vakuum unter der aufsteigenden Feuerkugel zu füllen bestrebt war. Als ihr Kombi nicht mehr in den Federn bebte, lenkte sie um den brennenden Sattelschlepper herum und fuhr weiter. Ein Flammenpilz beleuchtete die Straße. Im Außenspiegel beobachtete sie ihn und sah, wie er kleiner wurde.
Noch zehn Kilometer schaffte sie, dann blieb der Motor stehen. Hoffentlich waren sie weit genug von der radioaktiven Wolke entfernt, und hoffentlich gab es keinen Regen.
* * *
Der Motor der alten HarleyDavidson stotterte schon eine ganze Weile. Jetzt blieb er stehen. Der Langhaarige überlegte, welche Möglichkeiten ihm blieben.
Wahrscheinlich konnte er noch ein paar hundert Kilometer aus der Maschine herauskitzeln, aber sie war im vorigen Jahr schon fast am Ende gewesen. Er konnte aber auch zu Fuß gehen.
Es mußte eine bessere Lösung geben. Weiter vorn sah er einen Rastplatz. Mit letztem Schwung ließ er die Harley von der Straße dorthin rollen.
Die Straßen waren leer. Zuerst hatten Polizei und Nationalgarde jeden angehalten, der vorbeigekommen war. Der Langhaarige hatte dreimal Sperren umfahren. Nur gut, daß er sich in der Gegend so gut auskannte. In den Bergen hatte er die Hauptstraßen gemieden und war schon lange keinem Polizisten mehr begegnet.
Ein Schwerlaster donnerte vorüber. Etwas Verkehr gab es noch. Lastwagen mit Lebensmitteln – schließlich mußten die Menschen essen. Aber sonst war so gut wie nichts unterwegs.
Der Rastplatz war leer. Nein, nicht ganz. Der Langhaarige hörte Geräusche vom anderen Ende und ging näher heran.
Ein allem Anschein nach erschöpfter älterer Mann lag, einen Nierengürtel neben sich, auf einem der Picknicktische. Seiner offenen Hose entquoll ein bemerkenswerter Schmerbauch. Der Mann versuchte ein Bein gegen seine Brust zu drücken, doch der Bauch war im Weg.
Keuchend setzte er sich auf. Breitschultrig, ist wohl mal ziemlich kräftig gewesen. Jetzt nicht mehr. Der Mann, dessen einst wohl roter Bart und Haupthaar fast vollständig grau waren, setzte sich auf und sah in ein Buch, das neben ihm lag. Dann streckte er das rechte Bein, beugte sich vor, so weit er konnte, legte ein Handtuch um seine Fußsohle und zog an beiden Enden.
Sofern er in Begleitung war, hatten die Leute reichlich Zeit gehabt aufzutauchen. Der Langhaarige sah noch ein wenig zu. Jetzt kam das andere Bein an die Reihe; der Mann stöhnte.
Ein ganzer Tag auf dem Motorrad war die Hölle.
Stöhnend lag Harry auf dem Picknicktisch. Die beiden Auffahrunfälle würden für den Rest seines Lebens ihre Spuren bei ihm hinterlassen. Sein Rückgrat fühlte sich an wie eine Schlange aus Kristallglas, die man auf einen Plattenweg geworfen hatte. Ihm war bewußt, daß er zu dick war. Da nützte auch der Nierengürtel nichts.
Er nahm das Buch mit StreckGymnastikübungen heraus. Einige davon würden ja wohl gut gegen seine Rückenschmerzen sein – es war einen Versuch wert. Zuerst kam es ihm eher vor, als breche sein Rücken durch; er hatte nicht den Eindruck, daß ihm die Übungen halfen.
Jetzt tauchte ein Fremder in seinem Gesichtskreis auf, wohl auch ein Motorradfahrer. Er trat gelassen an Harrys Maschine, ließ den Blick über sie streifen und kam dann auf Harry zu. Hoch ragte er über ihm auf.
Muskulös, dichtbehaart und verdreckt, sieht nicht die Spur besser aus, als ich mich fühle, ist aber jünger und wohl auch besser in Form.
Der Fremde fragte: »Wozu das Handtuch?«
Keuchend ließ sich Harry auf den Rücken fallen. Er sagte: »Das ist das nützlichste, was man auf Reisen dabeihaben kann. Ich mach Dehnübungen. Mein Rücken ist total kaputt. Ich hab…«
»Laß gut sein. Her mit dem Schlüssel für die Kawa.«
»Zieh mich hoch! So komm ich nicht ran.«
Der Langhaarige befolgte diese Aufforderung und zog Harry am Kragen der Lederjacke nach oben. Als er über seinem Herzen auf einmal etwas Hartes spürte, senkte er den Blick. Die Lederjacke entglitt seiner Hand, und die 6,35er Beretta war auf ihn gerichtet.
»Ich hab ‘nen Schlüssel zu ‘ner Tür, die du besser nicht öffnest «, sagte Harry.
Jeder, der eine Spur Verstand besaß, hätte darüber zumindest einmal nachgedacht. Der Bursche jedoch reagierte sofort: er schlug nach der Hand, die ihn bedrohte und setzte zu einem Fausthieb auf Harrys Kinnlade an.
Harry zog den Abzug durch. Die Faust explodierte auf Harrys Kiefer und ließ alles vor seinen Augen verschwimmen. Auch die Hand, in der er die Waffe hielt, flog beiseite. Harry zielte erneut und schoß noch zweimal, die Pistole am Rumpf des Mannes emporführend.
Er sah sich rasch um. Die Schüsse waren nicht sehr laut gewesen. Es war auch kein besonders großes Kaliber, und Harry traute der Waffe nicht recht. Ob der Bursche wohl allein war? Er stand noch immer und machte ein verblüfftes Gesicht. Harry feuerte noch zwei Schüsse auf ihn ab und hielt die letzte Kugel in Reserve.
Endlich stürzte der Angreifer zu Boden.
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