Weit schloss sich den Frauen an.
Sie fand eine Königskrabbe, die durch einen schlammigen Kanal stakste. Sie war leicht zu fangen. Weit drehte die schwach mit den Beinen wedelnde Krabbe um. Mit einem Stein knackte sie das Oberteil des Panzers auf. Im Innern, am Kopfansatz, war eine Menge Eier wie dicke Reiskörner deponiert. Sie pulte sie heraus und stopfte sie sich in den Mund. Der Geschmack war sehr intensiv, wie traniger Fisch. Das restliche Fleisch der Krabbe erwies sich als zu zäh, als dass es sich gelohnt hätte, es herauszupulen. Sie warf den zertrümmerten Panzer weg und setzte die Nahrungssuche fort.
So verging der Vormittag, während die Leute sich der Nahrungssuche widmeten – eine Tierart von vielen in dieser belebten Savanne.
Gegen Mittag zogen die Leute sich satt und zufrieden vom Wasser zurück.
Doch Axt machte sich selbständig. Weit folgte ihm. Er schaute zu ihr zurück. Sie wusste, dass er wusste, dass sie ihm folgte.
Axt gelangte zu einem ausgetrockneten Flussbett, das mit abgeschliffenen Kieselsteinen übersät war. Er ging im Bett auf und ab und prüfte die Steine, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Es war ein etwa faustgroßer, abgeflachter und abgerundeter Stein. Dann hockte er sich ins Flussbett und suchte es ab, bis er einen geeigneten Hammer-Stein gefunden hatte. Er hatte etwas getrocknetes Strauchwerk dabei, das er zum Schutz über die gekreuzten Beine legte. Dann ging er ans Werk und bearbeitete den Stein, den er ausgewählt hatte. Bald stoben Splitter von den Steinen.
Weit saß zehn Meter entfernt. Sie hatte die Beine an die Brust gezogen, hielt sie mit den Händen umklammert und schaute ihm fasziniert bei der Werkzeugfertigung zu. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Axt und Weit waren nämlich in Werkzeugmacher-Kulturen aufgewachsen, die durch Jahrtausende getrennt worden waren.
Nachdem sie den Wald erst einmal hinter sich gelassen und sich endgültig für die Savanne entschieden hatten, war den Läufern gleich ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten eröffnet worden. Sie waren mehr als nur mobil. Sie wanderten. Aber diese Wanderung war ziellos. Für jedes Individuum ging es nur ums Überleben. Für Leute, die neue Landschaften zu erkunden vermochten, war es oft leichter, zu einem verheißungsvollen Platz weiterzuwandern als zu versuchen, sich an Ort und Stelle an widrige Bedingungen anzupassen.
Im Lauf der Generationen legten die Leute Tausende von Kilometern zurück. Sie verließen sogar Afrika und setzten den Fuß in Gebiete, die kein Hominide bisher betreten hatte. Bevor die Eiszeit die Welt in den Würgegriff nahm, hatten von Afrika bis nach Südeuropa, den Mittleren Osten und Südasien gemäßigte klimatische Bedingungen geherrscht. Beim Betreten dieser vertrauten Umgebung folgten die Leute dem leichtesten Weg der Küstenlinien: Sie zogen am Mittelmeer entlang, schwenkten dann landeinwärts und kolonisierten Griechenland, Italien, Frankreich und Spanien – genauso wie die Tiere, die später auf Afrika beschränkt waren: Elefanten, Giraffen und Antilopen. In östlicher Richtung kamen sie bis nach Indien, sickerten im späteren China ein und stießen in südlicher Richtung sogar bis nach Indonesien vor.
Das war jedoch keine Eroberung. Weits Art hatte sich zwar weiter ausgebreitet als alle anderen Primaten-Spezies – andere Tiere, wie die Elefanten, schwärmten jedoch viel weiter aus. Und sie waren auch nur wenige. Ihre Dichte auf einer gegebenen Fläche war geringer als zum Beispiel die der Löwen. Trotz der Werkzeuge waren die Leute noch immer nur Tiere in einer Landschaft, die sie nicht nennenswert prägten.
Zumal die Wanderung ziellos war. Einer von Weits Ahnen war sogar bis nach Vietnam gekommen; und nun, in Weits Zeit, war ihre Abstammungslinie – durch Zufall und endlose Wanderungen – wieder in Ostafrika, in der alten Heimat angelangt.
Jedoch stießen die Rückkehrer in der alten Heimat auf neue Probleme.
Manche Hominidenpopulationen hatten es trotz der Klima-Kapriolen vorgezogen, nicht auf Wanderschaft zu gehen. Um zu überleben, hatten sie ihre Intelligenz steigern müssen. Bessere Werkzeuge – hauptsächlich die Steinäxte – waren der Schlüssel zum Überleben gewesen. Das Geheimnis der Axt bestand in der Tropfenform. Diese Form ergab eine lange Schneidkante bei gleichzeitig minimalem Gewicht. Obwohl sie im Bedarfsfall noch die einfachen pithecinenartigen Splitter-Werkzeuge verwendeten – die leicht zu fertigenden Splitter waren ›billig‹ und für manche Aufgaben, zum Beispiel für die Jagd auf Kleintiere sogar besser geeignet –, benutzte man die Steinäxte nicht nur zum Zerteilen von Fleisch, sondern auch dafür, um Zweige und Äste von den Bäumen abzuhacken, Holzspeere anzuspitzen, Bienenstöcke zu öffnen, in Baumstämmen nach Larven zu stochern, Rinde abzuschälen, Mark zu zerkleinern, Schildkrötenpanzer zu knacken… Es war eine Gruppe der zu Hause Gebliebenen, von der Axt abstammte.
Weshalb Weit, ein Nachkomme von Wanderern, die das südliche Eurasien bis zum Fernen Osten durchquert hatten, nun mit dieser geradezu futuristisch anmutenden Technik von Axt und seinen Leuten konfrontiert wurde.
Axt arbeitete geduldig. Weit ließ den Blick schweifen und sah, dass das ausgetrocknete Flussbett mit Steinäxten übersät war: Viele Steine, die sie für bloße Kieselsteine gehalten hatte, waren bearbeitet worden. Sie alle hatten die typische Tropfenform und wiesen in unterschiedlicher Ausprägung die scharfe Kante am Umfang des Werkzeugs auf.
Aber diese Äxte muteten seltsam an. Ein paar waren winzig – nur schmetterlingsgroß –, und andere waren groß. Manche waren gesplittert, andere blutverschmiert. Als sie eine der größeren Äxte aufhob, schnitt sie sich in den Finger; sie war kaum benutzt worden, falls überhaupt.
Jemand kam auf sie zu. Sie kauerte sich zusammen.
Es war Narben-Gesicht, der Mann, der die Kinder gelehrt hatte, wie man einen Stein bearbeitet. Er sah Weit gierig an. Er hatte eine große Axt in der Hand. Sie war viel zu groß, als dass sie zum Zerteilen von Fleisch geeignet gewesen wäre. Ohne sie aus den Augen zu lassen, drehte er die Axt in den Händen und schärfte eine Kante mit einem Hammer-Stein nach. Dann schabte er damit übers Bein und rasierte den schwarzen Haarflaum ab, der dort wuchs. Und die ganze Zeit betrachtete er Weits Gesicht und Körper. Das halb verschlossene Auge glänzte.
Sie hatte absolut keine Ahnung, was er wollte – bis sie die Erektion aus seinem Schamhaar hervorstechen sah.
Axt war mit der Schneide, an der er arbeitete, fast fertig: Das handtellergroße, grob behauene Objekt war ersichtlich ein funktionales Werkzeug, in ein paar Minuten angefertigt. Als er jedoch sah, was Narben-Gesicht vorhatte, ließ er die Steinaxt zornig fallen. Er stand auf, verstreute die abgeschlagenen Splitter und schlug den Mann gegen die Schulter. »Weg! Weg!«
Narben-Gesicht knurrte ihn an, und der erigierte Penis erschlaffte. Dann entriss Axt ihm die große Show-Axt und warf sie auf den Boden. Ein Teil der schön gearbeiteten Klinge zersplitterte. Narben-Gesicht schaute auf die Axt, auf Weit und ging nach einem letzten bösen Blick auf Axt davon.
Weit saß mit an die Brust gezogenen Beinen da. Sie war verängstigt und verwirrt.
Axt schaute sie an. Dann ging er wieder im trockenen Flussbett auf und ab und prüfte die Steine. Schließlich stieß er auf einen unregelmäßigen vulkanischen Stein, der so schwer war, dass er ihn nur mit beiden Händen anzuheben vermochte. Er setzte sich wieder hin, suchte sich ein paar Hammer-Steine aus und deckte den Schoß mit Buschwerk ab.
Dann schlug er mit aller Kraft auf den Stein. Splitter und ganze Scheiben scherten ab. Dank seines Geschicks und der Kraft kristallisierte sich bald eine tropfenförmige Steinaxt heraus. Nun formte er mit ein paar kleineren Steinen die beiden linsenförmigen Oberflächen und schärfte die Kante zu einer scharfen Klinge.
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