Die Savanne prägte die Hominiden. Aber sie waren keine Jäger, sondern Gejagte.
Die Pithecinen waren Beschränkungen unterworfen. Sie brauchten den Wald als Schutzraum, weil sie nicht dafür geschaffen waren, längere Zeit im Freien zu verbringen. Sie waren auf Flüsse, Seen und Feuchtgebiete angewiesen, weil ihr Körper nur wenig Fettgewebe hatte und nicht lang ohne Wasser auszukommen vermochte.
Im Laufe der Zeit hatten das Klima und die Vegetation in Afrika sich jedoch ständig verändert, und die Waldrand-Umgebung, die die Pithecinen bevorzugten, hatte sich ausgebreitet: In einer von kleinen Wäldern durchsetzten Landschaft gab es viele Ränder. Die Gestalt der Pithecinen hatte sich als effektiv und ausdauernd erwiesen, und es hatte eine wahre Explosion der Artenbildung stattgefunden, aus der Affen-Menschen in Hülle und Fülle hervorgegangen waren.
Die robusten Affen-Leute hatten sich vom Waldrand in den dichten Wald zurückgezogen. Dort hatten sie sich eine Nahrungsquelle erschlossen, für die es kaum Konkurrenz gab: Blätter, Rinde und unreife Früchte, die kein anderer Hominiden-Typ zu verdauen, und Nüsse und Samen, die kein anderes Tier zu knacken vermochte. Zu diesem Zweck hatten sie wie die Dickbäuche und Gigantopithecinen große, energieaufwändige Mägen ausgeprägt, um diese minderwertige Nahrung zu verarbeiten, und massive Schädel, die in der Lage waren, die mächtigen Kiefer mit den Mahlzähnen anzutreiben.
Ihr Sozialleben hatte sich auch verändert. Im dichten Wald mit einem konstanten Vorrat an Laub und Rinde bildeten sich feste Gruppen aus Weibchen, die in einem bestimmten Abschnitt des Waldes lebten. Die Männchen streiften als Einzelgänger umher und versuchten, die Weibchen in ihrem jeweiligen Territorium unter Kontrolle zu halten. Deshalb wurden die Männchen größer als die Weibchen, denn schiere Körperkraft war ein Plus, mit dem die Männchen Rivalen abwehrten.
Die Art der Gorilla-Menschen gehörte zu den Hominiden mit der geringsten Intelligenz jener Zeit. Dieser große Magen war sehr energieaufwändig; um den Körperhaushalt auszubalancieren, hatten im Lauf der Anpassung anderweitig Abstriche erfolgen müssen. Intelligenz benötigte ein Harem im stetigen Dämmerlicht des tiefen Waldes nicht, und so hatte das große Primatengehirn mit dem großen Blut- und Energiebedarf sich bei den Gorilla-Leuten zurückgebildet.
Obwohl der Gorilla-Mann über allzeit bereite Weibchen verfügte, hatte er nur kleine Hoden. Im Gegensatz zu ihm mussten die dürren Pithecinen-Männer sich möglichst oft mit möglichst vielen Frauen paaren und benötigten die großen pendelförmigen Hoden, die sie gern präsentierten, um ganze Ströme von Sperma zu produzieren.
Innerhalb dieser beiden grundlegenden Pithecinen-Arten, den grazilen Schimpansen-Leuten und dem robusten Gorilla-Typ gab es noch viele Varianten. Manche perfektionierten den aufrechten Gang. Manche verabschiedeten sich wieder von ihm. Manche ›Schimmis‹ waren intelligenter als andere, und manche Gorilla-Leute waren dümmer als der Rest. Es gab Schimmis, die primitiveres Werkzeug benutzten als Capo und Gorilla-Arten, die Werkzeuge verwendeten, die noch besser waren als die feinen Steinklingen der Pithecinen. Es gab Große und Kleine, Sesshafte und Läufer, Zwerge und Riesen, schlanke Allesfresser und reine Pflanzenfresser. Es gab Geschöpfe mit vorspringenden Gesichtern wie Schimpansen und andere mit senkrecht abfallenden Gesichtern und fein ziselierten Gesichtszügen, die fast schon wie richtige Menschen aussahen. Und es fand eine intensive Vermischung zwischen den Arten statt, woraus wiederum viele Unterarten und Hybride hervorgingen – das volle Spektrum menschlicher Möglichkeiten.
Als die verblüfften Paläontologen der Zukunft diese Vielfalt aus fragmentarischen Fossilien und Steinwerkzeug zu rekonstruieren versuchten, ersannen sie weit verzweigte Stammbäume und Nomenklaturen und benannten die imaginierten Spezies als Kenyanthropus platypos, oder Orrorin tugenenis, Australopithecus garhi, africanus, afarensis, bahrelghazali, anamensis oder Ardipithecus ramidus, oder Paranthropus robustus, boisei, aethiopicus, oder Homo habilis… Doch nur wenige dieser Namen entsprachen der Realität. Zumal die Grenzen zwischen den solcherart kategorisierten Geschöpfen fließend waren. Draußen in der wirklichen Welt spielten solche Etiketten natürlich keine Rolle; es gab nur Individuen, die ums Überleben kämpften und ihren Nachwuchs aufzogen, wie sie es seit alters her getan hatten.
Die meisten dieser vielen Arten würden sich in der Zeit verlieren und ihre Gebeine vom gefräßigen Grün des Waldes verschlungen werden. Kein Mensch würde je erfahren, wie es war, in einer solchen Welt zu leben, in der so viele Arten von Vormenschen sich tummelten. Es war ein blubberndes evolutionäres Ferment, in dem viele Varianten aus einem grundlegend neuen, erfolgreichen Bauplan entsprangen.
Jedoch hatte keine dieser Myriaden Arten eine Zukunft, weil all diese Affen-Menschen sich an den Wald klammerten. Ihre Finger und Zehen blieben lang, und die Beine waren ein Kompromiss zwischen dem auf Knöcheln gehenden Baum-Kletterer und dem Zweibeiner. Am Abend bauten sie in den Baumkronen Nester, wie ihre im Wald lebenden Vorfahren es getan hatten. Und ihr Gehirn war auch nicht wesentlich größer geworden als das von Capo und ihren Verwandten, den urzeitlichen Schimpansen, weil sie mit der minderwertigen Nahrung kein größeres Gehirn zu unterstützen vermochten.
Vier Millionen Jahre lang waren die Pithecinen ein weit verzweigter, vielgestaltiger und sehr erfolgreicher Stamm der Hominiden-Familie. Am Anfang waren die Affen-Menschen auch die einzigen Hominiden auf der Welt gewesen. Jedoch war ihre Zeit der bedeutenden Veränderungen schon vorüber. Sie waren der Versuchung durch den Schutz und die Sicherheit des Waldes erlegen, und dadurch hatten sie sich selbst vieler Möglichkeiten beraubt. Die Zukunft gehörte einem anderen Stamm von Hominiden – auch Abkömmlinge des Pithecinen-Stamms –, die im Gegensatz zu den Pithecinen aber den entscheidenden Absprung aus dem Wald geschafft hatten.
Die Zukunft gehörte Weit.
Zögernd öffnete sie die Augen. Sie sah einen schmutzigen Boden, der unter dem Gesicht anstieg. Als sie den Kopf hob, sah sie Helligkeit, die durch die dichten Baumwipfel gefiltert wurde.
Sie drückte gegen den Boden und stemmte den Körper in die Höhe. Laub und Schmutz klebten an ihren Brüsten und der verletzten Schulter. An einem Baumstamm zog sie sich hoch und blieb still stehen, bis das hämmernde Herz sich beruhigt hatte. Dann wankte sie durch den Wald, dem Licht entgegen.
Sie stolperte ins Tageslicht hinaus. Sie hob die Hand und beschirmte die Augen vor einer tiefen, sich rötenden Sonne. Das Land war versengt, das Gras geschwärzt, der Erdboden rissig und trocken. Doch hinter einer niedrigen Anhöhe sah sie das Glitzern von Wasser: einen Fluss, der zwischen erodierten, etwas weiter entfernten Hügeln hervortrat.
Sie kannte diesen Ort nicht. Sie hatte das Waldgebiet von Ost nach West durchquert.
Zaghaft ging sie weiter. Der verbrannte Boden war noch immer warm – hier und da schwelten noch Baumstümpfe und Büsche –, und die versengten Grashalme schnitten ihr in die Füße. Bald waren die Waden, die vom Aufenthalt im Wald ohnehin schon schmutzig waren, mit einer kohlrabenschwarzen Ascheschicht überzogen.
Aber sie schaffte es bis zum Wasser. Der Fluss war klar und floss schnell in seinem Bett über abgeschliffenen vulkanischen Kieseln. Versengte Pflanzenreste trieben auf der Wasseroberfläche. Sie tauchte das Gesicht hinein und trank gierig. Der Schmutz und das Blut wurden abgewaschen, und der hartnäckige Rauchgestank und -geschmack in Nase und Mund verschwanden.
Und dann hörte sie einen Ruf. Eine Stimme. Ein Wort. Aber es war kein Wort, das sie kannte.
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