Und doch verbrachten die Notharctus den Großteil ihres Lebens als Einzeljäger, wie Purga es getan hatte. Das sah man schon an der Art, wie sie sich bewegten: Sie waren sich der anderen bewusst und gingen sich je nach Bedarf aus dem Weg oder drängten sich zum Schutz zusammen, aber sie bewegten sich nicht als Einheit. Als ob sie von Natur aus Einzelgänger gewesen wären, die der Not gehorchend mit anderen kooperierten, sich dabei aber eingeengt fühlten.
Als Noth über den Waldboden streifte, huschte ein Rudel kleiner dunkler Geschöpfe vorbei. Sie hatten rattenartige Schneidezähne und muteten im Vergleich zu Noth und seiner Familie wie Ungeziefer an. Das schwarz-weiße Fell war struppig und schmutzig. Diese kleinen Primaten waren Plesiapiden und fast identisch mit Purga, die vor bereits vierzehn Millionen Jahren gestorben war. Sie waren ein Relikt der Vergangenheit.
Ein Plesi kam Noth zu nah und beschnüffelte ihn in seiner relativen Blindheit. Noth reagierte, indem er es mit einem Samen bespie; der Samen traf die Kreatur im Auge, und sie zuckte zusammen.
Ein geschmeidiger, schlanker Körper wie der einer Hyäne brach aus dem Schatten der Bäume. Es handelte sich um ein Mesonychid.
Noth und seine Familie räumten schnell das Feld.
Das Plesi erstarrte. Aber auf dem offenen Waldboden saß es wie auf dem Präsentierteller.
Das Mesonychid machte einen Satz. Das Plesi schlug einen Haken und rollte sich zischend herum. Aber die Zähne des Mesos hatten ihm schon ein Stück aus dem Hinterlauf gerissen. Und nun kamen weitere Angehörige des Meso-Rudels herbei. Sie hatten Blut gerochen.
Das Mesonychid war eine Art der Condylarthen, eine Tier-Gruppe, die mit den Vorfahren der Huftiere verwandt waren. Das Meso war nicht aufs Töten spezialisiert und auch kein ausschließlicher Fleischfresser, aber wie Bären und Vielfraße war es ein Opportunist. Die Condylarthen starben zehn Millionen Jahre vor dem Entstehen der Menschen aus. Fürs Erste waren sie jedoch die stärksten Räuber des Welten-Walds.
Die anderen Bewohner des Waldbodens reagierten in der ihnen eigenen Art und Weise. Die lorisartigen Adapiden hatten auf dem Rücken einen Hornhaut-Schild über knochigen Höckern, unter den sie nun den Kopf zogen. Das große dumme Barylambda kam zu dem Schluss, dass auch ein Rudel dieser kleinen Jäger keine Gefahr darstellte; wie die Hyänen späterer Zeitalter waren die Mesos hauptsächlich Aasfresser und griffen nur selten Tiere an, die größer waren als sie selbst. Die Taeniodonten indes hielten Vorsicht für geboten; sie trotteten schwerfällig davon und zeigten die langen Zähne.
Das Plesi setzte sich derweil zur Wehr und brachte den Angreifern Kratz- und Bisswunden bei. Ein Meso winselte; die Sehnen des rechten Hinterlaufs waren durchtrennt und Blut tropfte aus der Wunde. Doch schließlich unterlag das Plesi der Übermacht. Die Mesos bildeten einen losen Kreis um ihr Opfer, und dann drängten die schlanken Leiber sich mit wedelnden Schwänzen um die Beute wie Fliegen um eine offene Wunde. Der Geruch von Blut und der Gestank von in Panik abgesondertem Kot und Mageninhalt waren zu viel für Noths empfindliche Nase.
Obwohl die altertümlichen Plesiapiden gelernt hatten, wie ein Opossum Früchte zu schälen oder vom Mark der Bäume zu leben, waren sie primär Insektenfresser geblieben. Doch nun bekamen sie Konkurrenz von anderen Insektenfressern, den Vorfahren der Igel und Mäuse – und von ihren eigenen Nachfahren wie den Notharctus. In Nordamerika waren die Plesis schon fast ausgestorben und überlebten nur noch in Randgebieten wie diesem nur bedingt bewohnbaren Wald in der Polarregion. Jedoch waren die endlosen Tage ungünstig für Körper und Lebensgewohnheiten, die sich in den Nächten der Kreidezeit ausgeprägt hatten. Bald würde auch das letzte Plesi verschwunden sein.
Noth war hoch oben unter den kathedralenartigen Wipfeln und sah die Familie mit geschmeidigen Bewegungen zu sich heraufklettern. Doch irgendetwas störte ihn: eine Änderung der Lichtverhältnisse, eine plötzliche Kälte. Als Wolken sich vor die Sonne schoben, zerbrachen die Gitterstreben aus Licht, die den Wald durchzogen. Noth fror, und das Fell sträubte sich. Und dann regnete es: Schwere, dicke Tropfen prasselten auf die großen Blätter und zerplatzten wie Geschosse auf dem lehmigen Boden.
Es lag am einsetzenden Regen und dem überwältigenden Gestank des blutigen Gemetzels am Boden, weshalb Noth die Annäherung von Solo nicht bemerkte.
Solo hatte sich in einem schattigen Abschnitt versteckt, und zwar so, dass er Gegenwind hatte. So vermochte die Sippe der Notharctus, die sich in (trügerische) Sicherheit brachte, nicht seine Witterung aufzunehmen.
Und er sah Noths Mutter mit dem Kleinen.
Sie war ein fruchtbares, gesundes Weibchen: Das war es, was die Anwesenheit des Jungen ihm über sie sagte. Aber sie hatte einen Gefährten bei sich, und weil sie schon ein Kind hatte, war es unwahrscheinlich, dass sie in dieser Paarungssaison noch einmal heiß werden würde. Allerdings ließ Solo sich davon nicht abhalten. Er wartete, bis Noths Familie sich auf einem Ast in Sicherheit gebracht und wieder beruhigt hatte.
Solo war drei Jahre alt und ein geschlechtsreifes starkes Notharctus-Männchen. Und er fiel auch irgendwie aus dem Rahmen.
Die meisten Männchen durchstreiften in Grüppchen den Wald und suchten nach den großen und sesshafteren Gruppen von Weibchen, mit denen sie sich zu paaren hofften. Aber nicht Solo. Solo zog es vor, allein auf die Pirsch zu gehen. Er war größer und stärker als fast alle Weibchen, denen er auf seinen Streifzügen durch den polaren Wald begegnet war. Auch in dieser Hinsicht war Solo untypisch; das durchschnittliche Männchen war nämlich kleiner als das durchschnittliche Weibchen.
Und er hatte gelernt, sich mit dieser Stärke zu holen, was er wollte.
Mit einem geschmeidigen Schwung ließ Solo sich auf den Ast fallen und baute sich vor Noths Mutter auf. Er schien nur mit Mühe das Gleichgewicht zu halten – die Hinterläufe waren vergleichsweise kräftig, die Vorderarme kurz und dünn, und den langen Schwanz hatte er aufgestellt, sodass er ihm wie ein Haken über den Kopf ragte. Aber er war groß, bedrohlich ruhig und einschüchternd.
Noths Mutter roch den großen Fremden: nicht verwandt. Sie geriet in Panik, zischte und schob Links hinter sich.
Noths Vater trat auf den Plan. Er richtete sich auf den Hinterbeinen auf und stellte sich dem Eindringling. Mit schnellen, ruckartigen Bewegungen rieb er die Geschlechts-Drüsen an den umliegenden Blättern und strich mit dem Schwanz über die Unterarme, sodass die Knochensporne über den Handgelenks-Drüsen durch den buschigen Schwanz kämmten und ihn mit seinem Geruch imprägnierten. Dann wirbelte er den stinkenden Schwanz über dem Kopf. In der vom Geruch dominierten Welt der Notharctus war das eine machtvolle Demonstration. Geh weg! Das ist mein Platz. Das ist meine Sippe, Junge. Geh weg!
Das Verhalten des Vaters enthielt keine emotionale Komponente. Der einzige Zweck seiner ›Vaterschaft‹ war die Zeugung gesunder Nachkommen und deren Schutz, damit sie bis zur Geschlechtsreife überlebten. Die Bereitschaft, sich dem Eindringling entgegenzustellen, entsprang allein dem selbstsüchtigen Bestreben, sein Erbe zu erhalten.
Normalerweise wäre dieses Spiel ›Abschreckung durch Gestank‹ weitergegangen, bis eins der beiden Männchen sich ohne Körperkontakt zurückgezogen hätte. Doch auch in dieser Hinsicht wich Solo von der Norm ab. Er verzichtete auf eine entsprechende ›Gegendarstellung‹ und beobachtete das hektische Gebaren des anderen nur mit kaltem Blick.
Entnervt durch die unheimliche Ruhe des Neuankömmlings gab Noths Vater schließlich auf. Die Duftdrüsen trockneten ein, und er ließ den Schwanz hängen.
Da schlug Solo zu.
Mit gefletschten Zähnen stürzte er sich auf Noths Vater und prallte gegen seine Brust. Noths Vater kippte quiekend um. Solo ging auf alle viere hinunter, ließ sich auf ihn fallen und biss ihm durchs Fell in die Brust. Noths Vater schrie auf und verschwand. Er war nur leicht verletzt, aber seine Moral war gebrochen.
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