Und dann sah sie eine schemenhafte Bewegung vom anderen Baum. Das zurückgebliebene Stark machte plötzlich einen Satz und rutschte dabei mit den Füßchen auf der Rinde aus. Und dann sprang es in die Luft, ohne das Ziel richtig anzupeilen und ohne mithilfe der angeborenen Fähigkeit die Entfernung zu schätzen.
Angst keimte in Plesi auf.
Stark erreichte den Ast, kam aber zu hart auf und rutschte sofort wieder ab. Für einen Moment hing das Junge da, kratzte mit den kleinen Händen nutzlos an der Rinde und schlegelte mit den Hinterläufen. Und dann stürzte es ab.
Plesi sah, wie es zuckend hinab fiel. Der weiße Bauch zeigte nach oben, und Hände und Füße griffen ins Leere. Stark stieß den piepsenden Schrei eines verängstigten Babys aus. Dann fiel es auf die Blätter und war im nächsten Moment verschwunden – verschwunden im Grün des Bodens, das alle Toten des Waldes verschluckte.
Plesi klammerte sich zitternd an den Ast. Es war so schnell passiert. Ein Junges verloren, ein kümmerlicher Schwächling übrig. Es war kaum zum Aushalten. Sie zischte das bedrohliche Grün wütend an.
Und dann kletterte Plesi zum Grün, zum Boden hinunter. Schwach, die sich ängstlich an den Baumstamm klammerte, ließ sie zurück.
Schließlich erreichte sie die untersten Äste und schaute hinab auf eine Oase aus Licht.
Dies war eine der wenigen Lichtungen des endlosen Waldes. Innerhalb der letzten Monate war ein großer, von innen ausgehöhlter Laubbaum vom Blitz gefällt worden. Als er umkippte, hatte er eine Schneise ins dichte Blattwerk geschlagen. Diese Lichtung würde nicht lang Bestand haben. Doch fürs Erste nutzten die Unterholz-Pflanzen wie diese robusten Überlebenden, die Bodenfarne, die Gelegenheit zur Verbreitung. Der Waldboden war hier ungewöhnlich üppig und grün. Und schon sprossen Schösslinge und starteten ein gnadenloses ›Pflanzen-Rennen‹, bei dem es darum ging, den anderen das Licht zu nehmen und das Loch im Blätterdach zu schließen.
Der Wald war ein seltsam statischer Ort. Die großen Laubbäume wetteiferten miteinander, so viel Sonnenlicht wie möglich einzufangen. Im Dämmerlicht der unteren Ebenen war das Licht zu schwach, um Wachstum zu unterstützen, und der Boden war mit toter pflanzlicher Materie und den Knochen von Getier und Vögeln übersät, die das Pech gehabt hatten, abzustürzen. Unter dem stummen Boden harrten indes Samen und Sporen aus und warteten Jahrhunderte, notfalls auch Jahrtausende, bis der Tag kam, da der Zufall eine Bresche ins Blätterdach schlug und das Rennen ums Leben von neuem begann.
Plesi rutschte an einer Luftwurzel hinab und erreichte den Boden. Unter den breiten Wedeln eines Bodenfarns huschte sie unbehaglich über einen direkt von der Sonne beschienen Abschnitt. Der feste Boden, der weder nachgab noch schwankte, mutete sie sehr seltsam an – so ungewohnt wie die Erschütterungen eines Erdbebens auf einen Menschen gewirkt hätten.
Es gab noch weitere Tiere auf dieser Lichtung, die von der Aussicht auf Nahrung angelockt worden waren. Da waren Frösche, Lurche und sogar ein paar Vögel, die als bunte Schwärme durch die Luft stoben und nach Insekten und Samen Ausschau hielten.
Und es gab Säugetiere.
Darunter waren Geschöpfe wie Waschbären, die aber enger mit den behuften Tieren der Zukunft verwandt waren, und flinke Insektenfresser, deren Nachfahren Mäuse und Igel umfassen würden. Und da war ein Taeniodont, der wie ein kleiner dicker Wombat aussah. Es wühlte im Boden und grub Wurzeln und Knollen aus. Keins der kleinen Geschöpfe auf dieser Lichtung wäre einem menschlichen Beobachter bekannt vorgekommen. Sie waren scheu, eigenartig, hässlich und legten ein fast reptilienartiges Verhalten an den Tag. Sie schauten laufend über die Schulter wie Gelegenheitsdiebe, die jeden Moment mit der Rückkehr des Hausherrn rechneten.
Diese Säugetiere hatten sich aus der Kreidezeit herübergerettet. Damals hatte die Erde den Eindruck einer einzigen Stadt erweckt, die nur an den Bedürfnissen ihrer Besitzer, den Dinosauriern ausgerichtet war. Doch nun waren die Herren verschwunden, die Infrastruktur vernichtet, und die einzigen Überlebenden waren die urbanen Spezies, die in der Kanalisation gehaust und sich von Abfällen ernährt hatten.
Die zu neuem Leben erwachte Erde unterschied sich aber grundlegend von der idyllischen Kreidezeit. Die neuen Wälder der Erde waren viel dichter. Es gab keine großen Pflanzenfresser mehr: Die Sauropoden waren verschwunden, und das Erscheinen der Elefanten lag noch weit in der Zukunft. Es gab keine Tiere mehr, die groß genug waren, um Bäume zu fällen, Lichtungen und Schneisen zu schlagen und parkartige Savannen zu schaffen. Nun spross die Vegetation umso üppiger und verwandelte die Welt in einen botanischen Garten, wie man ihn nicht gesehen hatte, seit die ersten Tiere an Land gekommen waren.
Aber es war eine seltsam leere Bühne. In diesen dichten Urwäldern lebten keine räuberischen Dinosaurier mehr, aber auch noch keine Jaguare, Leoparden oder Tiger. Praktisch alle Bewohner des Waldes waren kleine, auf Bäumen lebende Säugetiere wie Plesi. Für eine außergewöhnlich lange Zeit – für Jahrmillionen – würden die Tiere noch an ihren Kreidezeit-Lebensgewohnheiten festhalten, und wesentlich größer würde auch keine Säugetier-Spezies werden. Sie begnügten sich noch immer mit der Dunkelheit und den Nischen der leeren Welt, fingen Insekten und enthielten sich aller evolutionären Neuerungen, die über ein neues Gebiss hinausgingen.
Wie zu langen Haftstrafen verurteilte Gefängnisinsassen wurden auch die Überlebenden institutionalisiert. Obwohl die Dinosaurier längst verschwunden waren, fiel es den Säugetieren schwer, Verhaltensweisen zu ändern, die sie sich in hundertfünfzig Millionen Jahren als ›Underdogs‹ angewöhnt hatten.
Dennoch fanden Veränderungen statt.
Schließlich hörte Plesi das leise Winseln ihres Babys.
Am Rand der Lichtung hatte Stark sich in einer Art Nest aus bräunlich verfärbten Wedeln zusammengekauert. Nachdem er vom Baum gefallen und auf die Lichtung gestürzt war, hatte er wenigstens die Geistesgegenwart besessen, in Deckung zu gehen. In Sicherheit war er deshalb aber noch lange nicht: Ein großer rotbäuchiger Frosch beobachtete ihn mit einer gewissen Neugier in den leeren Augen. Als er Plesi sah, machte Stark einen Satz und rannte zu seiner Mutter. Er suchte nach Plesis Zitzen, doch Plesi schnappte nach ihm und verweigerte ihm diesen Trost.
Plesi war zutiefst beunruhigt. Ein Carpolestid, der sich im Nest zu behaupten vermochte, aber keinen Instinkt für den Baum hatte – und der sich nicht einmal ruhig verhielt, wenn er exponiert war –, hatte schlechte Überlebensaussichten. Plötzlich wirkte Stark gar nicht mehr so stark. Plesi verspürte einen seltsamen Impuls, sich einen Gefährten zu suchen und sich noch einmal zu paaren. Doch fürs Erste biss sie Stark nur mit dem kräftigen Schneidezahn in die Seite und ging zum Baum zurück, von dem sie herabgestiegen war.
Aber sie hatte erst ein paar Körperlängen zurückgelegt, als sie erstarrte.
Die ausdruckslosen Augen des Räubers fixierten Plesi mit tödlicher Berechnung.
Der Räuber war ein Oxyclacnus. Er war ein schlankes Pelztier mit vier Beinen. Mit dem langen Körper und den kräftigen Beinen sah er aus wie ein zu groß geratenes Wiesel, obwohl Kopf und Schnauze eher an einen Bären erinnerten. Aber er war weder mit dem Wiesel noch mit dem Bären verwandt. Vielmehr handelte es sich um einen Ungulaten, einen frühen Angehörigen der großen Familie, die eines Tages behufte Säugetiere wie Schweine, Elefanten, Pferde, Kamele und sogar die Wale und Delphine umfassen würde.
Dieser Oxy wirkte plump, träge und sogar unfertig für ein Auge, das an Leoparden und Wölfe gewöhnt war. Aber diese Art hatte gelernt, sich durchs spärliche Unterholz des endlosen Waldes an Beute anzupirschen. Er vermochte sogar zu klettern und die Beute bis auf die unteren Äste der Bäume zu verfolgen. In dieser urtümlichen Zeit hatte der Oxy kaum Konkurrenz.
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