Kein Ei war ausgebrütet worden. Das traurige und auf der zellulären Ebene verwirrte Euoplo war von dannen gezogen. Sie war kaum verschwunden, als auch schon eine pelzige Wolke räuberischer Säugetiere sich über die Eier hermachte und das Nest in ein schlammiges Schlachtfeld verwandelte.
Das Euoplo, das Letzte seiner Art, wanderte von einem finalen Imperativ getrieben übers Land: überleben. Aber das Gift und der Regen setzten auch ihm zu. Lebewesen wie Purga suchten in Bauten oder unter Steinen Schutz vorm Regen – und wenn es sein musste, auch unter einem leeren Schildkrötenpanzer. Das Euoplo war jedoch zu groß, um irgendwo Unterschlupf zu finden, und einzugraben vermochte es sich auch nicht. Der Rücken war entsetzlich verbrüht, von den großen Knochenplatten löste sich das Fleisch, und die Faserstränge brannten wie Feuer.
Blindlings wankte es dem Meer entgegen.
Ein Vierteljahr nach dem Einschlag stolperten Purga und Letztes über einen steinhart gefrorenen Boden.
Sie begegneten nur wenigen Tieren: Manchmal beobachtete ein vorsichtiger Frosch ihren Vorbeimarsch, oder ein Vogel flog bei ihrer Annäherung auf. Sein Zwitschern zerriss die Stille, und er ließ ein Stück gefrorenes Aas am Boden zurück. Die Überreste der üppigen Kreidezeit-Vegetation, die Baumstümpfe und das vereinzelte Unterholz waren zu harten schwarzen Skulpturen gefroren. Beim Versuch, sie anzunagen, sprangen höchstens ein Mundvoll Eis oder ein abgebrochener Zahn heraus.
Sie waren nur noch zu zweit. Dritter war an Hunger und Kälte gestorben.
Purga sehnte sich in ihrem Sicherheitsbedürfnis danach, auf einen Baum zu klettern oder sich in die weiche Erde einzugraben. Aber es gab keine Bäume mehr, nichts als Asche, Baumstümpfe und Wurzelreste, und der Boden war zu hart zum Eingraben. Wenn sie sich ausruhen mussten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als im losen Schutt Nester aus Asche, verbranntem Laub und Holzresten zu bauen. Dort lagen sie dann bibbernd und kuschelten sich aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen.
Nach einer tagelangen Wanderschaft erreichten Purga und Letztes die Küste des amerikanischen Binnenmeers.
Der grobkörnige Strand war gefroren, und auf dem Meer, das schwarz-grau war wie der Himmel darüber – drifteten Eisschollen. Aber die sanfte Brise trug noch immer Salzgeruch über den Sand. Und hier, an der Meeresküste fanden die Primaten Nahrung – Seetang, Krustentiere und sogar gestrandete Fische.
Auch die Meere waren durch den Einschlag verwüstet worden. Der Verlust des Sonnenlichts und der saure Regen hatten das photosynthetische Plankton vernichtet, das in den oberen Schichten des Meeres vorgekommen war. Nachdem der Ursprung der Nahrungskette verschwunden war, starben die Arten wie fallende Dominosteine. Auf der geschundenen Erde ging der Tod um, und im Wasser des mit Eisschollen bedeckten, verdunkelten Meers spielten sich Dramen ab, die genauso schrecklich waren wie die Tragödien, die an Land stattfanden. Es sollte eine Million Jahre dauern, bis die Meere sich wieder erholt hatten.
Purga stieß auf einen gestrandeten Seestern. Sie hatte noch nie am Meer gejagt und ein solches Geschöpf nie zuvor gesehen. Sie stupste es mit der Schnauze an und versuchte es in eine ihrer Kategorien einzuordnen: gefährlich oder essbar.
Ihre Bewegungen waren schwach, und sie sah den Seestern auch nur verschwommen.
Purga wurde immer schwächer. Sie war ständig durstig und litt an chronischen Schmerzen, die Mund und Rachen erfüllten und bis in den Magen ausstrahlten. Seit dem Einschlag hatte sie stetig Gewicht verloren. Dabei war sie immer schon ein schmächtiges Wesen gewesen, das nicht viel zum Zusetzen hatte. Und sie war ein Geschöpf der Tropen, das es plötzlich in eine arktische Umgebung verschlagen hatte. Das Fell speicherte zwar die Wärme, aber der lange, schlanke Körper hatte eben nicht die kompakte Kugelform der an die Kälte angepassten Lebewesen. Deshalb verbrannte sie durch das Zittern noch mehr Energie und Körpermasse.
Sie war abgemagert, geschwächt und kam nicht mehr zu Kräften. Das Bewusstsein trübte sich zunehmend, und die Instinkte versagten.
Und sie wurde alt. Die wichtigste Überlebensstrategie der als ›Ungeziefer‹ lebenden Säugetiere hatte in der schnellen Vermehrung bestanden. Ihre Zahl war immer so groß gewesen, dass die Dinosaurier sie auf ihren Jagdzügen nicht auszurotten vermochten. Solche Geschöpfe hatten nichts von einem langen Leben. Purga näherte sich bereits dem Ende ihres kurzen, intensiven Lebens.
Letztes litt natürlich auch. Aber es war jünger und hatte mehr Kraftreserven. Purga spürte eine wachsende Kluft zwischen ihnen. Das war aber keine Frage mangelnder Loyalität. Es war die Logik des Überlebens. Purga spürte im tiefsten Innern, dass der Tag kommen würde, wo ihre Tochter sie nicht mehr als Jagdgefährtin betrachtete und nicht einmal als Behinderung, sondern als Beute. Nach allem, was sie überstanden hatte, wären Purgas letzte Erinnerungen vielleicht, dass die eigene Tochter ihr die Zähne an die Kehle setzte.
Doch nun rochen sie Fleisch. Und sie sahen weitere Überlebende, noch mehr rattenähnliche Säugetiere über den Strand huschen. Da gab es etwas zu fressen. Purga und Letztes liefen hinterher.
Schließlich wankte das Euoplo, dessen Bewusstsein wie eine defekte Glühlampe flackerte, an die Küste des Meeres.
Es schaute verständnislos nach unten. Wasser umspülte die Füße, und schwere Regentropfen prasselten hernieder. Der Sand war von Ruß und vulkanischem Staub geschwärzt und mit den Knochen winziger Kreaturen übersät. Sie machte die silbrigen Kadaver von Fischen aus, denen Vögel die Augen ausgepickt hatten. Aber das Euoplo verspürte nur Müdigkeit, Hunger, Durst, Einsamkeit und Schmerz.
Es hob den Kopf. Die Sonne ging im Südwesten als eine blutrote Scheibe unter und würde bald hinter einem kohlrabenschwarzen Horizont versinken.
Das Euoplo verharrte bewegungslos an der Wasserlinie. Es war einer der letzten großen Dinosaurier, die auf der ganzen Erde überlebt hatten. Es mutete an wie ein Denkmal für seine untergehende Art. Kopf und Schwanz wogen schwer unter dem massiven Panzer, und das Euoplo ließ sie sinken. Es starb, ohne auch nur ein einziges lebensfähiges Junges in die Welt gesetzt zu haben. Ein Gefühl der Verlorenheit und Trauer erfüllte das kleine Bewusstsein des Euoplos.
Plötzlich verspürte es ein scharfes Zwicken an der weichen Unterseite des Fußes.
Es war ein therisches Säugetier: auch nicht schöner als Purga, aber schon mit Zähnen ausgestattet, die schnitten – wie eines Tages die Zähne eines Löwen schneiden würden. Es war vorgestürmt und hatte den Saurier mit unglaublicher Verwegenheit gebissen. Das Euoplo trompetete erzürnt und hob in einer Kraftanstrengung einen mächtigen Fuß. Als es ins Wasser stampfte, platschte es aber nur; das flinke Säugetier war längst weggeflitzt.
Aber es scharten sich immer mehr Überlebende um das Euoplo.
Diese Tiere waren alle klein. Purga und Letztes waren hier, und andere Säugetiere, die in den unterirdischen Bauten überlebt und sich während des langen Winters durch die konstante Körpertemperatur gewärmt hatten. Es gab auch Vögel, die durch das warme Blut und die geringe Größe ein Ereignis überlebt hatten, das ihren größeren Verwandten den Garaus gemacht hatte. Außerdem gab es Insekten, Schnecken, Frösche, Salamander und Schlangen – Lebewesen, die in Bauten, Sandbänken und tiefen Löchern ausgeharrt hatten. Diese kleinen Kreaturen waren daran gewöhnt, sich von Resten zu ernähren und sich in irgendeiner Ecke zu verkriechen; ihre Lebensumstände wurden auch durch den Kometeneinschlag kaum verschlechtert.
Nun rückten sie diesem Riesen auf den Leib, dem letzten der Ungeheuer, die ihre Welt mehr als hundert Millionen Jahre lang dominiert hatten. In den langen Monaten seit dem Einschlag hatten sie sich über eine Welt verbreitet, die wie eine Leichenhalle anmutete. Und dabei hatten viele von ihnen sich eine neue Nahrungsquelle erschlossen: Dinosaurier-Fleisch.
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