»Nein, du Dummerchen«, sagte Jahna. Als sie aber die Angst im Gesicht ihres Bruders sah, legte sie den Arm um ihn. »Er hat es wahrscheinlich erst in den Boden gelegt, als es schon tot war.«
Daraufhin bibberte Millo nur noch mehr. Aber sie hatte ihm doch keine Angst machen wollen. Sie schob den Schädel weg, sodass er ihn nicht mehr sah und erzählte ihm eine Geschichte, um ihn zu beruhigen.
»Hör mir mal zu. Vor langer, langer Zeit waren die Leute wie die Toten. Die Welt war dunkel, und sie hatten trübe Augen. Sie lebten in einem Lager, wie sie es heute noch tun, und sie taten die Dinge, die sie heute noch tun. Doch alles war dunkel und unwirklich, wie Schatten. Eines Tages kam ein junger Mann ins Lager. Er war zwar wie die Toten, aber er war neugierig – er war anders. Er ging gern Fischen und Jagen. Und er fuhr immer weiter aufs Meer hinaus als alle anderen. Die Leute fragten sich, wieso…«
Während sie die Geschichte mit sanfter Stimme erzählte, entspannte Millo sich, lehnte sich an sie und schlief just in dem Moment ein, als die Sonne im Meer versank. Sogar der große Knochenkopf döste, wie sie sah; er war an der Wand zusammengesunken und rülpste leise. Vielleicht hörte er ihr auch zu.
Ihre Geschichte war ein Schöpfungsmythos, eine Legende, die schon über zwanzigtausend Jahre alt war. Solche Legenden, wonach Jahnas Gruppe die Krone der Schöpfung sei, das ihre Lebensart die einzig wahre sei und dass alle anderen Untermenschen seien, lehrten die Leute, sich mit Leidenschaft um sich selbst, ihre Verwandten und ein paar hochgehaltene Ideale zu kümmern.
Und keine Rücksicht auf andere Menschen zu nehmen, und schon gar nicht auf solche Nicht-Leute wie die Art des Alten Manns.
»… Eines Tages sahen sie, dass der junge Mann mit einem Seelöwen zusammen war. Er schwamm mit ihm im Meer. Und er vereinigte sich mit ihm. Empört zogen die Leute den jungen Mann aus dem Wasser und fingen den Seelöwen ein. Und als sie ihn schlachteten, fanden sie einen Fisch in seinem Bauch. Es war ein fetter Fisch.« Sie meinte eine Olache. »Der Fisch war vom jungen Mann gezeugt worden. Er war weder Mensch noch Fisch, sondern etwas anderes. Also warfen die Leute ihn aufs Feuer. Sein Kopf ging in Flammen auf und erstrahlte in einem Licht, das sie blendete. So stieg der Fisch-Junge in den Himmel auf. Der Himmel war natürlich dunkel. Dort suchte der Fisch-Junge nach dem Ort, wo das Licht sich versteckte. Er hoffte, das Licht zu überlisten, damit es auf die dunkle Welt herunterkam. Und dann…«
Und dann kam ihr Vater herein.
Der Alte Mann war ein Neandertaler.
Seine Art hatte in Europa, über die extremen Umschwünge der Eiszeiten hinweg, für eine Viertelmillion Jahre überlebt. Auf ihre Weise waren die robusten Leute überaus erfolgreich gewesen. Sie hatten sich hier am Rand der Welt unter sehr ungünstigen Umweltbedingungen einen Lebensraum geschaffen, wo das Klima nicht nur rau, sondern auch trügerisch war und jäh umzuschlagen vermochte und wo die Ressourcen von Fauna und Flora knapp waren und ständigen Schwankungen unterlagen.
Für eine lange Zeit hatten sie sich sogar gegen die Kinder der Mutter zu behaupten vermocht. In den Warmphasen drängten die neuen Menschen von Süden nach Europa herein. Mit den kräftigen Körpern, den großen, als ›Wärmetauscher‹ dienenden Nebenhöhlen und dem robusten Verdauungsapparat vermochten die Robusten der Kälte besser zu widerstehen als die Neuankömmlinge. Und mit ihrer bärenartigen Statur waren sie formidable Nahkämpfer und harte Gegner für die Menschen, bessere Technologie hin oder her. Und wenn dann die nächste Abkühlung einsetzte, zogen die Einwanderer sich wieder in den Süden zurück, und die robusten Leute nahmen ihr altes Land wieder in Besitz.
Dies war immer wieder geschehen. Im südlichen Europa und im Nahen Osten gab es Höhlen und andere Stätten, wo Schichten menschlichen Abfalls von Neandertaler-Müll überlagert wurden, auf die dann wieder eine menschliche Deponie folgte.
Und während der letzten Warmzeit waren die modernen Menschen wieder nach Europa und Asien eingesickert. Sie hatten sich kulturell und technologisch weiterentwickelt. Und diesmal hatten die Robusten auf verlorenem Posten gestanden. Schließlich waren sie in Asien ausgerottet und in ihre kalte Festung Europa zurückgedrängt worden.
Der Alte Mann war zehn Jahre alt gewesen, als die ersten dürren Jäger ins Lager seiner Leute gewankt waren.
Das Lager war am südlichen Ufer eines Flusses errichtet worden, der ein paar Kilometer landeinwärts vom Kliff verlief und günstig an Wanderrouten der Pflanzenfresser-Herden gelegen, die über die Landschaft wogten. Sie lebten hier nach alter Väter Sitte und warteten nur darauf, dass die Jahreszeiten ihnen die Herden auf dem Präsentierteller darboten. Das Flussufer war ein guter Platz gewesen.
Bis die Dürren kamen.
Es hatte keinen Krieg gegeben. Es hatte ein komplexer, blutiger und lang anhaltender Verdrängungswettbewerb stattgefunden.
Anfangs hatte es sogar noch eine Art Handel gegeben, wobei die Dürren Meeresfrüchte für Fleisch von den großen Tieren tauschten, die die Robusten mit ihren Stoßspeeren und der großen Körperkraft zu erlegen vermochten. Aber die Dürren schienen unersättlich. Und mit den eigentümlichen schlanken Speeren und den Holzstücken, die so weit flogen, erwiesen die Dürren sich als zu gute Jäger. Bald lernten die Tiere daraus und änderten ihre Gewohnheiten. Sie folgten nicht länger den alten Pfaden und versammelten sich auch nicht mehr an den Seen, Teichen und Flüssen, sodass die Robusten weit ausschwärmen mussten auf der Suche nach der Beute, die ihnen früher sozusagen an der Haustür vorbeigelaufen war.
In der Zwischenzeit hatte der Kontakt der Leute des Alten Mannes mit den Dürren sich zwangsläufig intensiviert.
Dürre und Robuste hatten gelegentlich Geschlechtsverkehr miteinander, freiwillig und unfreiwillig. Es hatte auch Kämpfe gegeben. Wenn man einen Dürren im Nahkampf stellte, vermochte man ihm oder ihr mühelos das Rückgrat zu brechen oder diesen großen Blasen-Schädel mit einem einzigen Schlag zu zerschmettern. Nur dass die Dürren sich auf keinen Nahkampf einließen. Sie kämpften aus der Distanz, mit hart geworfenen Speeren und fliegenden Pfeilen. Und die Robusten hatten dem nichts entgegenzusetzen: Obwohl sie nun schon viele zehntausend Jahre neben den Dürren lebten, hatten die Nachkommen von Kieselstein es nicht vermocht, auch nur ihre einfachsten Erfindungen zu kopieren. Zumal man die Dürren auch kaum sah, wenn sie um einen herumliefen und sich mit ihren vogelartigen Stimmen etwas zuzwitscherten. Sie waren wie huschende Schemen, als ob die Welt zu langsam, zu statisch für sie wäre. Und was man nicht sah, vermochte man auch nicht zu bekämpfen.
Schließlich war der Tag gekommen, als die Dürren den Entschluss gefasst hatten, sich den Ort anzueignen, wo die Leute des Alten Manns lebten – ihr Zuhause am Flussufer.
Es war eine leichte Übung für sie gewesen. Sie hatten die meisten Männer und ein paar Frauen getötet. Die Überlebenden jagten sie davon und überließen sie ihrem Schicksal. Als der Alte Mann von einer Einzelexpedition am Fluss entlang zurückkehrte, brannten die Dürren gerade die Hütten ab und räumten die Höhlen leer, die Stätten, wo die Gebeine der Vorfahren des Alten Mannes hundert Generationen tief begraben lagen.
Danach wanderten die Leute ziellos umher; sesshafte Geschöpfe, denen man ein Nomadendasein aufgezwungen hatte. Wenn sie sich woanders niederlassen wollten, machten die Dürren ihnen bald wieder einen Strich durch die Rechnung. Viele von ihnen verhungerten.
Schließlich hatten sie sich in die Lager der Dürren begeben müssen. Trotz allem lebten immer noch viele seiner Artgenossen, aber sie waren wie die Knochenköpfe, die Jahnas Lager folgten und wie Ratten vom Müll lebten – und auch nur, solang die Dürren sie duldeten. Ihr Schicksal war bereits besiegelt.
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