Alle außer dem Alten Mann. Der Alte Mann hatte sich von den Plätzen der Dürren ferngehalten. Er war nicht der Letzte seiner Art. Aber er war der Letzte, der wie seine Vorfahren vor der Ankunft der modernen Menschen lebte. Er war der Letzte, der frei lebte.
Als Mutter nur sechzigtausend Jahre vor Christi Geburt gestorben war, hatte es noch viele verschiedene Arten von Leuten auf der Welt gegeben. Einmal waren da Mutters menschenartige Leute in manchen Teilen von Afrika gewesen. In Europa und im westlichen Asien lebten robuste Leute wie Kieselstein und Neandertaler. Im östlichen Asien gab es noch immer Gruppen der dünnen, kleinköpfigen Läufer, den Homo erectus. Die alte Komplexität der Hominiden mit den vielen Varianten, Unterarten und sogar Mischformen der verschiedenen Arten hatte noch Bestand.
Mit der Revolution, die in Mutters Generation ausbrach und mit der darauf folgenden Expansion veränderte sich das alles. Es war kein Genozid und in keiner Weise geplant. Es war eine Sache der Ökologie. Die verschiedenen Formen von Menschen konkurrierten um dieselben Ressourcen. Über die ganze Welt lief eine Welle der Auslöschung hinweg – ein menschliches Artensterben –, eine Welle letzter Kontakte und Abschiede ohne Bedauern, als eine menschliche Spezies nach der andern im Orkus der Geschichte verschwand. Für eine Weile überlebten die Läufer noch in der Isolation der indonesischen Inselwelt und führten fast unverändert ein Leben, wie Weit es vor so langer Zeit getan hatte. Doch als der Meeresspiegel dann erneut sank, wurden die Brücken zum Festland wiederhergestellt, und die modernen Menschen kamen herüber – und für die Läufer war nach einer langen und statischen, ungefähr zwei Millionen Jahre umspannenden Geschichte das Spiel aus.
Diese Entwicklung war unvermeidlich. Und bald würde es gar keine Leute mehr auf der Welt geben – außer einer einzigen Art.
Nach dem Verlust seiner Familie war der Alte Mann von den Dürren nach Westen geflohen. Und hier, in dieser Höhle hatte der Alte Mann die Westküste Europas erreicht, die Gestade des Atlantiks. Der Ozean war eine unüberwindliche Barriere. Er konnte nicht weiter.
Jahnas Zusammentreffen mit dem Alten Mann war der allerletzte Kontakt.
Rood, dessen Silhouette sich gegen den Sonnenuntergang abzeichnete, war staubig und überhitzt. An seiner Seite war Olith, Jahnas Tante. Rood ließ den Blick durch die Höhle schweifen und machte große Augen.
Für Jahna war es, als ob sie schlagartig aus einem Albtraum erwachte. Sie ließ das Stück Tierhaut fallen, an dem sie gearbeitet hatte, rannte über einen Boden, der sie plötzlich verdreckt und ungepflegt anmutete und warf sich ihrem Vater in die Arme. Dann weinte sie wie ein Baby, während ihr Vater ihr linkisch den primitiven Knochenkopf-Umhang tätschelte, in dem sie steckte.
Der Knochenkopf regte sich. Die Schatten der beiden Erwachsenen, die von der sinkenden Sonne geworfen wurden, fielen als Streifen auf ihn. Er beschirmte die Augen mit der Hand. Dann knurrte er und versuchte verschlafen und mit vollem Bauch auf die Füße zu kommen.
Rood schob die Kinder zu Olith, die sie festhielt. Dann hob er einen Stein über den Schädel des schlaftrunkenen Knochenkopfs.
»Nein!«, rief Jahna. Sie riss sich von Olith los und fiel ihrem Vater in den Arm.
Rood schaute zu ihr herab. Und sie wusste, dass sie eine Wahl treffen musste.
Jahna dachte für einen Moment nach. Sie erinnerte sich an die Muscheln, die Robben und die Feuer, die sie gebaut hatte. Und sie schaute auf den hässlichen, unförmigen Brauenwulst des Knochenkopfs. Sie ließ den Arm ihres Vaters los.
Roods Arm sauste hinab. Es war ein fürchterlicher Schlag. Der Knochenkopf fiel nach vorn. Aber Knochenkopf-Schädel waren dick. Jahna hatte den Eindruck, dass der Alte Mann selbst jetzt noch in der Lage gewesen wäre, wieder aufzustehen und zu kämpfen. Aber das tat er nicht. Er verharrte auf Händen und Knien im Schmutz seiner Höhle.
Rood musste vier-, fünfmal zuschlagen, bis er ihm den Schädel zertrümmert hatte. Lang vor dem letzten Schlag hatte Jahna sich schon abgewandt.
Sie verbrachten die Nacht in der Höhle. Der ermordete Knochenkopf lag auf dem Boden. Unter dem zerschmetterten Schädel hatte sich eine Blutlache gebildet. Am Morgen packten sie das restliche Robbenfleisch ein und rüsteten sich für die Heimreise. Doch bevor sie gingen, bestand Jahna darauf, dass sie ein großes, flaches Loch im Boden aushoben. Dort legte sie die Knochen des Kinds hinein, die sie gefunden hatte und die Leiche des Knochenkopfs. Dann schaufelte sie das Loch mit den Händen zu und stampfte die Erde fest.
Als sie weg waren, kamen die Möwen. Sie pickten an Robbenfleischfetzen und der Lache aus getrocknetem Blut im Eingang der Höhle, von der aus man einen Blick aufs Meer hatte.
KAPITEL 14
Die ausschwärmenden Menschen
Anatolien, Türkei, vor ca. 9600 Jahren
Sions silberhelles Lachen hallte über den leeren Platz. Ein Hund, der im Schatten der Männer-Hütte schlummerte, zog schläfrig ein Augenlid hoch, um nach der Ursache der Störung zu spähen, und ließ es wieder sinken.
Die Mädchen lagen auf dem staubigen, festgestampften Erdboden des Dorfes. Es wurde von der großen windschiefen Männer-Hütte beherrscht, einer wenig Vertrauen erweckenden Konstruktion aus Bohlen und Schilf. Die Hütten der Frauen umstanden diesen ›groben Klotz‹ als kleinere Satelliten. Ein lautes Schnarchen aus der Männer-Hütte sagte den Mädchen, dass der Schamane sich nach einer anstrengenden Nacht mit Bier und Visionen ausschlief. Nichts regte sich: weder die Hunde noch die Menschen. Die meisten Männer waren auf der Jagd, und die Frauen dösten mit den kleinen Kindern in ihren Hütten. Es liefen nicht einmal größere Kinder umher.
Sion verrieb noch etwas Fenchel auf dem Mais. Das aromatische Öl des Fenchels war eigentlich ein Schutz, den die Pflanze schon vor dem Tod der Dinosaurier entwickelt hatte; das Öl sollte die Blätter schmieren, damit lästige Insekten keinen Halt darauf fanden. Und nun würzte das Resultat dieses evolutionären Wettrüstens Sions Imbiss. »Du machst Witze«, sagte Sion. »Juna, ich liebe dich von ganzem Herzen. Aber du bist der oberflächlichste Mensch, den ich kenne. Seit wann interessiert du dich auch nur eine getrocknete Feige für Charakter…?«
Juna schoss brennende Röte ins Gesicht.
»Aha. Es gibt noch etwas, das du mir nicht sagen willst.« Sion musterte Junas Gesicht, wie ein erfahrener Jäger seine Beute taxierte. »Habt ihr beide etwa schon beieinander gelegen?«
»Nein«, blaffte Juna.
Sion war immer noch argwöhnisch. »Ich glaube nicht, dass Tori schon bei irgendjemandem lag. Außer bei Acta natürlich.« Acta war einer der ältesten Männer – zugleich auch der dickste –, aber er stellte nach wie vor seine Stärke als Jagdführer unter Beweis und sicherte sich somit seine Rechte an den Jungen und jungen Männern. »Ich weiß, dass Tori genug davon hat, dass Acta mit seinem stinkenden Schwanz in ihm herumstochert. Das hat Jaypee mir nämlich gesagt! Bald wird er mit einer Frau zusammen sein wollen. Aber jetzt noch nicht…«
Juna vermochte ihrer Schwester nicht in die Augen zu schauen, denn sie hatte bei Tori gelegen, wie Sion schon vermutet hatte. Es war in einem Gebüsch passiert, als Tori sich mit Bier betrunken hatte. Sie wusste nicht, weshalb sie ihn ranließ. Sie hatte nicht einmal gewusst, ob er es überhaupt richtig gemacht hatte. Am liebsten hätte sie ihrer Schwester alles erzählt, dass die Blutung aufgehört hatte und dass sie schon spürte, wie das neue Leben in ihr sich regte, aber das konnte sie nicht. Die Zeiten waren hart – die Zeiten waren eigentlich immer hart –, und es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich von einem grünen Jungen ein Kind machen zu lassen. Sie hatte Tori auch noch nichts davon gesagt und nicht einmal ihrer Mutter, Pepule, die selbst ein Kind erwartete. »Sion, ich…«
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