Jedoch war Delas Geschichte weder ein reines Märchen noch eine Gedächtnisstütze. Mit ihrer Geschichte – indem sie die Entstehungsgeschichte ihres Lands darstellte und indem ihr Publikum sie durch Zuhören zur Kenntnis nahm – begründete sie eine Art Titel. Nur wenn man das Land gut genug kannte, um seine wahre Geschichte zu erzählen, vermochte man seine Rechte am Land geltend zu machen. Es gab hier keine schriftlichen Verträge, keine Urkunden und keine Gerichte; Delas Anspruch auf das Land wurde einzig und allein durch das Verhältnis von Erzähler und Zuhörer begründet und auf Zusammenkünften wie diesen bestätigt.
Plötzlich ertönten ein lautes Zischen und ein freudiges Gebrüll vorm Zelt. Die ersten Brocken des Megaloceros waren aufs Feuer geworfen worden. Bald war die Luft vom Mund wässrig machenden Aroma des Fleischs erfüllt. Das nächtliche Fest begann.
Die Leute aßen, tanzten und vergnügten sich. Und beim Ausklang des Fests kam zu Roods Überraschung Dela auf ihn zu.
»Hör mir zu, Rood. Ich bin deine Freundin. Wir haben auch schon einmal beieinander gelegen.«
»Eigentlich zweimal«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln.
»Also zweimal. Was ich dir nun sage, sage ich aus Freundschaft und nicht, um dir Leid zuzufügen.«
Er runzelte die Stirn. »Was willst du mir denn sagen?«
Sie seufzte. »Es gibt da so eine Geschichte. Ich habe sie vor nicht einmal zwei Tagen hier gehört; eine Gruppe aus dem Süden hat sie erzählt. Sie sagen, dass in einem wertlosen Landstrich an der Küste ein Knochenkopf in einer Höhle bei den Klippen haust. Du verstehst? Und in dieser Höhle – so sagt man, so will ein Jäger gesehen haben – leben zwei Kinder.«
Er verstand nicht. »Knochenkopf-Junge?«
»Nein. Keine Knochenköpfe. Leute. Der Jäger war mit der Beute beschäftigt und hat es nur aus der Ferne beobachtet. Eins der Kinder, sagte der Jäger, sei ein Mädchen, etwa so groß.« Sie stellte es mit der Hand dar. »Und das andere…«
»Ein Junge«, sagte Rood atemlos. »Ein kleiner Junge.«
»Ich bitte dich um Entschuldigung, dass ich dir das erzählt habe«, sagte Dela.
Rood verstand. Dela glaubte, dass er über den Verlust hinweggekommen sei und dass sie nun wieder einen Funken Hoffnung im kalten Herzen entzündet hätte. »Morgen«, sagte er mit schwerer Stimme. »Morgen wirst du mich zu diesem Jäger bringen. Und dann…«
»Ja. Aber nicht jetzt.«
Später, mitten in der Nacht, legte Olith sich zu Rood, aber er war rastlos.
»Der Morgen ist bald da«, flüsterte sie. »Und dann wirst du aufbrechen.«
»Ja«, sagte er. »Olith, komm mit mir.«
Sie nickte nach kurzer Überlegung. Es wäre nicht ratsam für ihn gewesen, allein zu reisen. Sie hörte, dass er mit den Zähnen knirschte, berührte seinen Mund und spürte die verspannten Muskeln. »Was ist denn?«
»Wenn da wirklich ein Knochenkopf-Mann ist – wenn er ihnen etwas angetan hat…«
»Du machst dir unnötige Gedanken«, sagte sie sanft. »Du musst dich ausruhen. Schlaf jetzt.«
Doch Rood fand keinen Schlaf.
Der Knochenkopf kehrte zur Höhle zurück. Jahna sah, dass er eine Robbe dabeihatte, das ganze Tier – es war ein dickes, schweres Männchen, das er sich über die Schulter geworfen hatte. Obwohl sie schon ein paar Wochen in dieser Höhle unter dem Rand der Klippe war, erstaunte seine Kraft sie immer wieder.
Millo kam mit flatterndem Umhang im Knochenkopf-Stil angerannt. »Eine Robbe! Eine Robbe! Heute Abend werden wir gut essen!« Er umklammerte die baumstammartigen Beine des Knochenkopfs.
Genauso wie er die Beine seines Vaters umklammert hatte. Jahna verdrängte diesen unwillkommenen Gedanken; damit durfte sie sich nicht mehr belasten, denn sie musste stark sein.
Der Knochenkopf, der von der Anstrengung schwitzte, ein solches Gewicht vom Strand über den Sims der Klippe hier heraufzuschleppen, schaute auf den Jungen hinab. Dann stieß er ein paar gutturale Grunzlaute aus, ein Gestammel ohne irgendeine Bedeutung… oder zumindest glaubte Jahna, dass es nichts bedeutete. Manchmal fragte sie sich, ob er doch Worte sprach – Knochenkopf-Worte, welch seltsame Vorstellung –, die sie nur nicht verstand.
Sie trat vor und zeigte auf den hinteren Bereich der Höhle. »Leg die Robbe dorthin«, befahl sie. »Wir werden sie gleich zerlegen. Schau, ich habe schon ein Feuer gebaut.«
Das hatte sie wirklich. Schon vor Tagen hatte sie eine Grube für eine ordentliche Feuerstelle ausgehoben und die hässlichen Ascheflecken beseitigt, mit denen der Boden übersät war. Und dann hatte sie die Höhle erst einmal entrümpelt. Sie war in Ekel erregender Unordnung gewesen, in dem Nahrungsreste, Fetzen von Tierhäuten und Werkzeug mit allem möglichen Unrat vermengt waren. Nun schien die Höhle immerhin fast bewohnbar.
Das heißt für Leute. Sie fragte sich aber lieber nicht, was ›bewohnbar‹ für die mächtige Kreatur bedeutete, die sie sich als Knochenkopf vorstellte.
Im Moment machte der Knochenkopf einen unzufriedenen Eindruck. In diesem Zustand war er unberechenbar. Knurrend warf er die Robbe auf den Boden und stapfte verschwitzt, verschmutzt und mit meersalzverkrusteter Haut in den hinteren Abschnitt der Höhle, um ein Nickerchen zu machen.
Jahna und Millo nahmen derweil die Robbe aus. Sie war durch einen Speerstoß ins Herz getötet worden, der eine große hässliche Einstichstelle hinterlassen hatte. Jahna schauderte bei der Vorstellung, welcher Kampf diesem Todesstoß vorausgegangen sein musste. Mit den scharfen Steinklingen ging den Kindern das Ausnehmen und Zerlegen des großen Meeressäugers aber schnell von der Hand.
Der Knochenkopf wachte gewohnheitsmäßig rechtzeitig zum Essen auf. Die Kinder aßen das Fleisch gut durchgebraten. Der Knochenkopf aß es fast roh. Er holte sich ein großes Steak aus dem Feuer, ging damit zu seinem Lieblingsplatz am Eingang und zerriss das Fleisch mit den Zähnen. Dabei betrachtete er den Sonnenuntergang. Er aß viel Fleisch, ungefähr doppelt so viel wie beispielsweise Rood. Dafür arbeitete er aber auch sehr hart.
Es war eine eigentümlich häusliche Szene. Aber das ging schon so, seit Jahna und Millo vor ein paar Wochen hier reingeschneit waren. Irgendwie funktionierte es.
Es war den Alten Mann immer schwer angekommen, allein zu leben; seine Art war sehr gesellig. Und er litt auch nicht nur unter der Einsamkeit. Er hatte nämlich noch das alte ›Schubladen-Bewusstsein‹. Die meisten Vorgänge in seinem großen Schädel liefen unbewusst ab; es war, als ob seine Hände die Feuerstein-Werkzeuge fertigten und nicht er. Erst beim Zusammentreffen mit Leuten lebte er wirklich auf und erlangte das volle Bewusstsein; allein schien er sich in einem halb bewussten Traumzustand zu befinden. Für die Art des Alten Manns waren andere Leute wie Leuchtfeuer in der Landschaft. Ohne die Gesellschaft anderer Leute war die Welt öde, leblos und statisch.
Deshalb hatte er die dürren Kinder mit ihrem Geplapper und ihrer Wuseligkeit auch geduldet, deshalb hatte er sie auch ernährt und sogar gekleidet. Und deshalb würde er auch bald dem Tod ins Auge sehen.
»Millo. Schau«, flüsterte Jahna. Sie schaute sich um und vergewisserte sich, dass der Knochenkopf sie nicht sah. Dann scharrte sie im Schmutz und brachte eine Anzahl verkohlter Gebeine zum Vorschein.
Millo stockte der Atem. Er hob einen Schädel auf. Er hatte ein vorspringendes Gesicht und einen dicken Wulst über den leeren Augenhöhlen. Aber der Schädel war klein, kleiner noch als Millos Kopf; er musste einem Kind gehört haben. »Wo hast du das gefunden?«
»Im Boden«, flüsterte sie. »Vorn in der Höhle, als ich saubergemacht habe.«
Millo ließ den Schädel fallen, und er schlug klappernd auf die anderen Knochen. Der Knochenkopf schaute trübe herüber. »Das ist furchtbar«, flüsterte Millo. »Vielleicht hat er sie getötet. Der Knochenkopf. Vielleicht frisst er kleine Kinder.«
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