Sie hielten sich an die Küste, weil es ihnen zu riskant erschien, sich landeinwärts zu wenden. Dort lauerten viele Gefahren – nicht zuletzt Menschen.
Als Primaten mit einem für tropisches Klima ausgelegtem Körper, die die schnell aufeinander folgenden Extreme des Pleistozän zu überstehen versuchten, hatten die Menschen sich die uralten Merkmale zunutze gemacht, die sie von den sprachlosen Kreaturen der Wälder geerbt hatten: die Bande der Verwandtschaft und Zusammenarbeit.
Die über Eurasien und Afrika verstreuten Clans lebten fast vollständig isoliert voneinander. Und die Isolation ging auch sehr tief. Fünfzig Kilometer von Jahnas Geburtsort entfernt lebten Leute mit einer Sprache, die von der ihren sich stärker unterschied, als das Finnische sich vom Chinesischen unterscheiden würde. In der Zeit von Weit und auch noch in den Tagen von Kieselstein hatte eine transkontinentale Einheitlichkeit bestanden, doch nun gab es unter Umständen schon deutliche Unterschiede zwischen zwei benachbarten Flusstälern. Die Menschen waren zu Uneigennützigkeit imstande, dass sie Verwundung, Verstümmelung und sogar den Tod auf sich nahmen, um anderen zu helfen – und zugleich waren sie einer extremen Fremdenfeindlichkeit verhaftet, die schlimmstenfalls in einem vorsätzlichen und ›generalstabsmäßig‹ geplanten Genozid kulminierte. In einem rauen Land, wo Nahrung knapp war, hatte es aber schon einen Sinn, dass die Mitglieder einer Gemeinschaft sich selbstlos unterstützten und andere abwehrten, die vielleicht knappe Ressourcen stehlen wollten. Sogar dem Genozid wohnte eine gewisse furchtbare Logik inne.
Falls die Kinder von Fremden entdeckt wurden, würden sie Jahna möglicherweise am Leben lassen – aber nur, um sie als Sexualobjekt zu gebrauchen. Dann konnte sie nur noch hoffen, schwanger zu werden und von einem der Männer als Partnerin auserwählt zu werden. Trotzdem würde sie immer nur eine niedere Stellung innehaben und niemals als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert werden. Millo hingegen würde man ohne Umstände töten, nachdem man vorher vielleicht noch ein wenig mit ihm gespielt hatte, so wie die Katze mit der Maus spielt. Sie wusste, dass das so war. Weil sie nämlich gesehen hatte, wie ihre eigenen Leute das praktizierten. Also ließen sie sich am besten nicht erwischen.
Während die Kinder weitermarschierten, nagte der Hunger an ihnen. Sie hatten keinen Proviant dabei, nicht einmal Olachen.
Sie überquerten einen niedrigen felsigen Höhenzug. Im Windschatten gedieh ein Fichtenhain. Die zwergwüchsigen Bäume waren nicht größer als Jahna – immerhin vermochten sie im Schutz der Felsen überhaupt zu wachsen.
Plötzlich packte Jahna Millo und warf ihn einfach auf den Boden. Dann steckten sie die Köpfe aus der Deckung.
Auf einem zugefrorenen Teich hinter der Erhebung lief eine Schar Schneehühner umher. Die Vögel pickten auf dem Eis und steckten die Schnäbel in Ritzen und Spalten. Sie hoben sich blütenweiß gegen das stählerne Blaugrau des Eises ab. Diese früh zurückkehrenden Zugvögel waren im Schnee unsichtbar, würden aber einen deutlichen Kontrast zu den Grün- und Brauntönen des Frühjahrs bieten.
»Komm«, sagte sie. Sie machten kehrt und rutschten den Abhang zum Fichtenwäldchen zurück.
Jahna wählte einen schönen, biegsamen jungen Baum aus. Dann holte sie eine Steinaxt aus der Tasche und fällte den Baum eine Handbreit überm Schnee. Dann hackte sie die Krone ab, sodass ein Stamm übrig blieb, der in etwa ihre Länge hatte. Mit Millos Hilfe machte sie eine Kerbe in den Stamm und trieb einen Keil hinein. Der Stamm ließ sich leicht spalten, und sie erhielt einen dünnen, federnden Streifen, den sie mit schnellen Bewegungen abschabte. Millo schälte inzwischen die restliche Rinde vom Stamm. Er zerriss sie in Fasern und flocht sie zu einer Schnur. Der Bogen, der zum Schluss dabei herauskam, war arg improvisiert. Nicht perfekt, sagte sie sich, aber er würde seinen Zweck erfüllen.
Dann spaltete sie eilig Pfeile von den Überresten des Stamms ab. Sie hatten natürlich kein Feuer, um die Pfeile zu härten und auch keine Federn, die als Stabilisatoren dienten. Also improvisierte sie und behalf sich mit Stücken der abgeschälten Rinde, die sie in Schlitze in den Pfeilen steckte.
Sie arbeiteten, so schnell sie konnten. Aber die Sonne stand schon ein beträchtliches Stück tiefer am Himmel, als sie fertig waren.
Sie steckte wieder Kopf und Schultern über die Erhebung und griff zum Bogen. Die Vögel waren noch immer da. Sie zielte und spannte den Bogen.
Der erste Pfeil ging so weit daneben, dass die Vögel es nicht einmal bemerkten. Der zweite erschreckte sie nur – die Vögel stoben empört kreischend und mit flatternden, leuchtenden Schwingen auf. Dann verschoss sie den letzten Pfeil – ein bewegliches Ziel war viel schwerer zu erfassen –, und ein Vogel geriet ins Trudeln und fiel vom Himmel.
Jubelnd kletterten Bruder und Schwester über die Anhöhe und rannten auf den zugefrorenen Teich zu. Der Vogel lag mit gespreizten Flügeln und blutverschmiertem Gefieder auf dem Eis. Jedoch waren die Kinder nicht so leichtsinnig, um blindlings aufs Eis zu laufen. Millo fand einen langen Ast. Dann legten sie sich bäuchlings auf den festen Boden am Ufer des Teichs und zogen den Vogel mit dem Ast an Land.
Im Tod schaute der Vogel hässlich und plump aus. Doch Jahna umfasste den kleinen Kopf mit den Händen. Dann nahm sie etwas Schnee, ließ ihn auf der Hand schmelzen und träufelte dem Vogel das Wasser in den offenen Schnabel: eine letzte Tränkung. »Danke«, sagte sie. Es war wichtig, diesen Respekt Tieren und Pflanzen gleichermaßen zu erweisen. Die Welt gab einem reichlich, aber nur solang man sie nicht rücksichtslos ausbeutete.
Als die kleine Zeremonie beendet war, rupfte Jahna den Vogel schnell, schlitzte ihm den Bauch auf und nahm ihn aus. Die Haut faltete sie zusammen und steckte sie in die Tasche. Mit den Federn, die das Schneehuhn ihr gegeben hatte, würde sie morgen bessere Pfeile anfertigen.
Sie aßen das rohe Fleisch, wobei das Blut an den Wangen hinab lief und den Schnee rot sprenkelte. Es war ein Moment des Triumphs. Jedoch währte Jahnas Befriedigung wegen der Beute nicht lang. Die Abenddämmerung setzte ein, und es wurde kälter.
Ohne eine Schutzbehausung würden sie sterben.
Jahna hängte sich den Bogen über den Rücken, steckte sich das restliche Geflügelfleisch in den Mund und führte Millo ein Stück landeinwärts. Bald kamen sie zu einer offenen, schneebedeckten Wiese. In der Mitte reichte der Schnee ihr fast bis zu den Knien.
Das sollte genügen.
Sie formte Blöcke aus dem Schnee. Es war ein hartes Stück Arbeit, denn sie hatte keine Hilfsmittel außer den Händen und Steinklingen, und die weichen oberen Schichten des Schnees brachen immer wieder ein. Weiter unten war der Schnee aber verdichtet und hart genug.
Dann stapelte sie die Blöcke in einem engen Kreis um sich herum auf. Millo schloss sich ihr widerwillig an. Bald zogen sie eine kreisrunde Wand um eine immer tiefere Grube hoch. Sorgfältig zogen sie die Kreise immer enger, bis sie schließlich eine Kuppel errichtet hatten. Dann schlug Jahna einen Zugangstunnel in die Wand, und Millo glättete die Innen- und Außenwand der Kuppel.
Das Schneehaus war eine behelfsmäßige Notunterkunft, aber es würde seinen Zweck erfüllen.
Die Dunkelheit brach nun schnell herein, und es ertönte bereits das erste Wolfsgeheul. Eilig verschanzten sie sich in ihrem Schneehaus.
Wir sind hier sicherer als vorige Nacht, sagte Jahna sich, als sie sich aneinanderkuschelten, um sich gegenseitig zu wärmen. Morgen müssen wir aber auf Nahrungssuche gehen.
Und wir müssen ein Feuer bauen.
Die Jäger kehrten vom Meer zurück. Sie verteilten sich auf ihre Familien und lieferten die Nahrung ab, die sie mitgebracht hatten. Es fanden jedoch keine Danksagungen statt. Diese Leute hatten nämlich keine Worte für bitte und danke, weil es bei diesen Jägern und Sammlern nämlich keine sozialen Ungleichheiten gab, die solche Nettigkeiten erfordert hätten. Die Nahrung wurde einfach je nach Bedürftigkeit verteilt.
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