Sie waren fast dort, fast so nah, um die nächste Robbe zu berühren. Sie hoben die Harpunen.
Und dann heulte der Wind plötzlich wie ein verwundetes Tier.
Die Robben wurden aus der Dösigkeit gerissen. Sie richteten sich auf, bellten, ließen den Blick schweifen und glitten mit geschmeidiger Eleganz und Schnelligkeit ins Wasser. Millo heulte frustriert und warf trotzdem die Harpune; sie tauchte nutzlos ins Wasser und verschwand.
Doch Jahna hatte den Blick gen Himmel gerichtet. Eine vom Wind getriebene Schneewand senkte sich auf sie herab und färbte die Welt weiß.
Jahna nahm Millo an der Hand und zerrte ihn hinter einen schützenden Eisblock. Sie pressten sich gegen das Eis und zogen die Knie an die Brust. Der Wind kreischte durch Risse und Kanäle im Eis – so laut, dass sie ihre eigene Stimme nicht mehr hörte, so laut, dass sie keinen Gedanken mehr zu fassen vermochte.
Und dann kam der Schnee über sie.
Sie sah nur noch Weiß – kein Meer, keinen Horizont, keinen Himmel. Es war, als ob sie in einem Ei steckten, sagte sie sich, in einem geschlossenen Ei und von der Welt abgeschnitten.
Bald klebte der Schnee an ihren Pelzen und türmte sich an der Eiswand auf. Sie wusste um die Gefahr, wenn es hier an der Windseite zu einer Schneeverwehung kam, und sie versuchte die sich verdickenden Schichten spitzer weißer Kristalle abzuwischen.
Aber der Sturm wollte nicht nachlassen. Und mit jedem Herzschlag stieg die Gefahr, dass Rood und die anderen sich immer weiter entfernten.
Schließlich verlor Millo die Geduld. Er stieß sie weg und stand auf, aber der tosende Wind riss ihn fast von den Beinen. Sie zog ihn wieder herunter.
»Nein!«, schrie er durch den Wind und versuchte sich wieder loszureißen. »Wir werden sterben, wenn wir hier bleiben.«
»Wir werden sterben, wenn wir von hier weggehen«, schrie sie. »Schau den Schnee! Höre den Wind! Was meinst du – in welcher Richtung ist das Land?«
Er drehte sich etwas um und setzte das kleine runde Gesicht dem Schnee aus.
»Wir haben schon einen großen Fehler gemacht«, sagte sie. »Wir haben den Sturm nicht kommen sehen. Was sagt deine Seele dir, was wir tun sollen? Was sagt Millo, dein Urgroßvater…?« Sie wäre wahrscheinlich imstande gewesen, ihn zu überwältigen und zum Bleiben zu zwingen, aber das wäre falsch gewesen. Sie musste ihn überzeugen zu bleiben. Und wenn er dann immer noch gehen wollte – nun, dann hatte er es so gewollt.
Und dann blieb er doch. Mit auf den Wangen gefrorenen Tränen ließ er sich wieder aufs Eis fallen und schmiegte sich an seine Schwester. Sie hielt ihn, bis er sich ausgeweint hatte.
Sie achtete darauf, den lockeren Schnee abzuwischen. Als jedoch die Dunkelheit hereinbrach – als die weiße Blase sich grau färbte und dann schwarz, ohne dass der Sturm nachgelassen hätte –, wurde sie zunehmend müde, hungrig und durstig.
Schließlich wurde sie von der Müdigkeit übermannt. Nur für eine Weile, sagte sie sich; ich werde nur für eine Weile ausruhen und wieder aufwachen, bevor der Schnee zu dick wird… Sie träumte davon, geschaukelt zu werden, als ob sie ein Baby in den Armen ihres Vaters wäre.
Als sie aufwachte, spürte sie das Gewicht vom Kopf ihres Bruders im Schoß. Das Tosen des Sturms war verklungen. Sie waren im Dunkeln; es war hier warm – dunkel, warm und sicher. Sie schloss die Augen und legte sich zurück. Es würde sicher nichts schaden, noch ein wenig zu ruhen.
Plötzlich keuchte Millo, als ob er nach Luft schnappen würde. Sie erinnerte sich an seinen Traum, der davon gehandelt hatte, dass er im Dunkeln ins Meer gestürzt und ertrunken wäre. Vielleicht erlebte sie nun den gleichen Traum…
Dunkelheit.
In einem Anfall von Panik schob Jahna Millo weg. Sie streckte die Hand aus und spürte eine dicke Schicht aus lockerem Schnee über sich. Mühsam stand sie auf und schob den Kopf durch den Schnee…
Und schaute in gleißendes Licht. Ihr stockte der Atem angesichts der sauberen kalten Luft. Der Himmel war eine vollkommene tiefblaue Kuppel, unter der die Sonne ihre Bahn zog. Ihr Blick schweifte über eine völlig veränderte Landschaft aus kreuz und quer durcheinander liegenden, von blaugrauem Packeis eingeschlossenen Eisblöcken, die noch dazu mit Eis- und Schneeverwehungen übersät war. Sie stand bis zur Taille im Schnee und wusste, dass sie gerade noch rechtzeitig aufgewacht war; die Schneeverwehung hatte sie warm gehalten, aber auch beinahe erstickt.
Sie trug den Schnee ab, bis sie Millos Schultern spürte und zerrte ihn an die Luft. Bald blinzelte er ins Licht und rieb sich die Augen. Wo er gelegen hatte, war der Schnee von Urin gelb verfärbt. »Bist du in Ordnung?« Sie wischte ihm den Schnee aus dem Haar und dem Gesicht, zog ihm die Handschuhe aus und bewegte seine Finger. »Spürst du die Zehen?«
»Ich habe Durst«, sagte er kläglich.
»Ich weiß.«
»Ich will zu Rood. Ich will zu Mesni.«
»Ich weiß…« Jahna ärgerte sich über sich selbst. So was von unvorsichtig, einfach einzuschlafen. Und diese Nachlässigkeit hätte Jahna und Millo fast das Leben gekostet. »Gehen wir zur Landzunge zurück.«
»Gut.«
Sie zog ihre Handschuhe an und nahm ihn an der Hand. Dann gingen sie um den Eisblock herum, der ihnen Schutz geboten hatte und schlugen die Richtung ein, aus der sie tags zuvor gekommen waren. Da war aber keine Landzunge mehr. Sie vermochte das Land zwar auszumachen, aber es war eine flache, blank geschliffen wirkende Küste, die von einer jungfräulichen Neuschneedecke überzogen war.
»Wo ist Rood?«, fragte Millo stöhnend.
Im ersten Moment wollte Jahna nicht wahrhaben, was sie da sah. Der Frühlingssturm hatte die Landschaft bis zur Unkenntlichkeit verändert. Und sie kannte das Land auch nicht so gut wie ihr Vater. Dennoch erkannte sie, dass das nicht die Küste war, die sie vor dem Sturm verlassen hatte. Gib mir Kraft, Jahna, Mutter meines Vaters. »Ich glaube, das Packeis ist während des Sturms aufgebrochen. Wir sind übers Meer getrieben« – nun erinnerte sie sich auch wieder an diesen Traum vom sanften Schaukeln – »und hierher verschlagen worden.«
»Ich kenne diesen Ort nicht«, sagte Millo und deutete aufs Land.
»Wir müssen eine weite Strecke abgetrieben sein.«
»Na gut«, sagte Millo nüchtern, »dort müssen wir hin. Zurück zum Land. Stimmt’s, Jahna?«
»Ja. Dort müssen wir hin.«
»Dann komm.« Er nahm ihre Hand. »In diese Richtung. Pass auf, wo du hintrittst.«
Sie ließ sich von ihm führen.
Sie wanderten an der Küste entlang. Das schneebedeckte Land war still. Es regte sich kaum etwas außer hin und wieder ein Polarfuchs, eine Möwe oder eine Eule. Die Stille war unheimlich und zerrte an den Nerven.
Der Marsch durch den Schnee war beschwerlich, vor allem für Millo mit seinen kurzen Beinen. Selbst die Küste war tief verschneit. Sie hatten keine Ahnung, wo sie waren und wussten auch nicht, wie weit das driftende Eis sie entführt hatte. Sie wussten nicht einmal, ob sie überhaupt in die Richtung gingen, aus der sie gekommen waren – der Landzunge entgegen. Aber sie konnten noch von Glück sagen, wurde Jahna sich schaudernd bewusst, dass die Eisscholle sie nicht aufs offene Meer hinausgetragen hatte, wo sie unweigerlich erfroren wären.
Sie stießen auf einen Bach, der so schnell strömte, dass er trotz dieses für die Jahreszeit untypischen Sturms nicht zugefroren war. Sie bückten sich bis zum Ellbogen in den Schnee und tranken. Jahna war erleichtert. Wenn sie kein Frischwasser gefunden hätten, wären sie vielleicht gezwungen gewesen, Schnee zu essen. Das hätte wohl den Durst gelöscht, aber auch das Feuer, das in ihren Körpern brannte – und wenn das geschah, musste man sterben.
Wasser hatten sie also. Aber sie fanden keine Nahrung, rein gar nichts. Sie gingen weiter.
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