Also starben die Tiere und ihr Fleisch wurde verzehrt, die Knochen wurden verstreut und von den überlebenden Artgenossen zertreten, bis der schlammige Rand, der den schrumpfenden See säumte, von weißen Splittern glitzerte.
Aber noch war die Dürre keine Katastrophe für die Leute. Noch nicht.
Mutter war zum See gegangen. Welcher bemerkenswerten inneren Spur sie jetzt auch folgte, sie musste immer noch essen und am Leben bleiben, und das würde ihr nur als Teil der Gruppe gelingen.
Aber das Leben wurde unmerklich leichter für sie.
Kein einziger Grashalm vermochte im Umkreis dieses Schlammlochs zu gedeihen. Mit anhaltender Dürre vernichten die Elefanten und andere Tiere die Bäume in einem immer größeren Radius, sodass die Leute auf der Suche nach Brennholz und Material für Lagerstätten und Hütten immer weiter ausschwärmen mussten.
Mutter bekam Hilfe bei diesen Arbeiten. Augen, das Mädchen mit dem intensiven Blick, auf das Stills Schädel einen solchen Eindruck gemacht hatte, brachte Mutter Holz. Ihre dünnen Arme waren mit dem kratzigen, vertrockneten Zeug beladen. Mutter nahm die Gaben ohne Kommentar an. Später ließ sie es dann zu, dass Augen sich zu ihr setzte und zuschaute, wie sie ihre Zeichen in den Boden kratzte. Nach einer Weile tat Augen es ihr zaghaft nach.
Einer der jüngeren Männer hatte sich in Augens Nähe herumgetrieben. Er war ein langfingriger Junge mit einer seltsamen Vorliebe für Insekten. Dieser Junge, Ameisen-Esser, verhöhnte Mutter und versuchte Augen wegzuziehen. Doch Augen wollte nicht.
Dann rammte Mutter einen langen, geraden Schössling in den Boden und steckte Stills Schädel darauf. Als Ameisen-Esser wieder um Augen herumscharwenzeln wollte, schaute er direkt in Sülls leere Augen und trollte sich wimmernd.
Wo der Schädel fortan Tag und Nacht über sie wachte, schien Mutter noch an Macht und Autorität zu gewinnen.
Bald brachte ihr nicht mehr nur Augen Holz und Wasser, sondern auch ein paar andere Frauen. Und wenn sie zum See hinunterging, machten ihr sogar die Männer widerwillig Platz und ließen ihr den Vortritt, das jüngste Opfer der Dürre anzuschneiden.
Das geschah natürlich alles wegen Still. Ihr Sohn half ihr auf eine subtile, ruhige Art und Weise, die seinem Charakter entsprach. Aus Dankbarkeit legte sie seine Lieblingsspielsachen um die Stange: Katzengold-Brocken und den knorrigen Ast. Sie stellte ihm sogar Nahrung hin – Fleisch von Elefantenkälbern, weich gekocht und von seiner Mutter vorgekaut, wie er es als kleines Kind so gern gehabt hatte. Jeden Morgen war das Fleisch verschwunden.
Sie war aber keine Närrin. Sie wusste, dass Still im streng körperlichen Sinn nicht mehr lebte. Aber er war nicht tot. Er lebte auf eine andere, nicht mit Händen zu greifende Art und Weise weiter. Vielleicht steckte er in den Tieren, die das Essen fraßen, das sie ihm hinlegte. Vielleicht war er in der Lagerstatt, auf die sie sich bettete. Vielleicht lebte er in den Herzen der Leute weiter, die ihr Nahrung brachten. Es spielte keine Rolle, wie er da war. Es genügte, wenn sie wusste, dass der Tod nur eine Phase war: wie die Geburt, das Sprießen der Körperbehaarung, der Verfall des Alters. Man brauchte keine Angst vor ihm zu haben. Der Schmerz, an dem sie gelitten hatte, war verschwunden. Wenn sie im Dunklen allein auf der Lagerstatt lag, fühlte sie sich Still so nah wie damals, als er als Baby an ihrer Brust genuckelt hatte.
Sie war auf jeden Fall schizophren, und vielleicht war sie auch vollkommen verrückt geworden. Aber wer hätte das schon sagen wollen; auf der ganzen Welt gab es nur eine Handvoll Leute wie Mutter, nur ein paar Köpfe, die mit einem solchen Licht erfüllt waren, und wer hätte überhaupt eine Diagnose stellen wollen.
Aber verrückt oder nicht, sie war so glücklich, wie sie es seit langem nicht mehr gewesen war. Und selbst in dieser Zeit der Dürre nahm sie zu. Unter dem Gesichtspunkt des Überlebens war sie erfolgreicher als ihre Artgenossen.
Ihr Wahnsinn – falls es Wahnsinn war – half ihr bei der Anpassung.
Und eines Tages wartete Augen mit etwas Neuem auf.
Augen malte neue Muster auf ein Stück Elefantenhaut. Zuerst waren sie primitiv, ein bloßes Gekritzel aus Ocker und Ruß auf einer staubigen Tierhaut. Augen ließ sich aber nicht entmutigen und versuchte, das in Ocker auf dem Leder abzubilden, was sie in ihrem Kopf sah. Während Mutter sie beobachtete, wurde sie an sich selbst erinnert, an die schmerzlichen früheren Zeiten, als sie versucht hatte, die seltsamen Inhalte aus dem Kopf zu verdrängen.
Und dann verstand sie, was Augen vorhatte.
Auf dieses Stück Elefantenhaut malte Augen ein Pferd. Es war ein einfaches, fast kindliches Bild mit krakeligen Linien und verzerrter Anatomie. Aber es war nicht etwa eine abstrakte Figur wie Mutters Parallelen und Spiralen. Dies war definitiv ein Pferd: Da war der elegante Kopf, der fließende Hals und die wirbelnden Hufe darunter.
Für Mutter war das wieder ein Schlüsselerlebnis, ein Moment, wo neue Verbindungen hergestellt und ihr Kopf neu konfiguriert wurde. Mit einem Schrei ließ sie sich auf den Boden fallen und suchte nach ihrem Ocker und Holzkohle. Erschrocken zuckte Augen zurück; sie befürchtete, etwas falsch gemacht zu haben. Doch Mutter schnappte sich nur ein Stück Leder und kratzte und kritzelte, wie Augen es ihr vorgemacht hatte.
Sie spürte den ersten kribbelnden Anflug der Migräne im Kopf. Aber sie arbeitete trotz der Schmerzen weiter.
Bald hatten Augen und Mutter die Flächen um sich herum, Felsbrocken, Knochen, Tierhäute und selbst den trockenen Staub mit hastigen Zeichnungen springender Gazellen und langhalsiger Giraffen verziert, mit Elefanten, Pferden und Antilopen.
Als andere Leute sahen, was Mutter und Augen taten, waren sie sofort davon fasziniert und versuchten, es ihnen nachzutun. Allmählich breitete die neue Bildkunst sich aus, und durch die ganze kleine Gemeinschaft sprangen ockerfarbene Tiere und flogen rußige Speere. Es war, als ob die Welt mit einer neuen Schicht aus Leben überzogen worden wäre, mit einer Schale des Bewusstseins, die alles veränderte, was sie berührte.
Für Mutter bedeutete das einen Machtzuwachs. Nachdem sie erkannt hatte, dass die Figuren, die sie in ihrem Kopf sah, Entsprechungen in der Außenwelt hatten, wurde es ihr bewusst, dass sie im Brennpunkt des globalen Geflechts aus Kausalität und Kontrolle stand: Als ob das Universum aus Leuten und Tieren, Felsen und Himmel nur eine Abbildung dessen sei, was in ihrer Vorstellung enthalten war. Und nun eröffnete sich ihr mit dieser neuen Technik von Augen eine neue Möglichkeit, diese Kontrolle, diese Verbindungen auszudrücken. Wenn sie das Bild des Pferdes in ihren Kopf einfror und es dann auf einen Felsen oder eine Tierhaut übertrug, wurde sie gleichsam zu seiner Besitzerin – auch wenn das Tier frei über die trockenen Ebenen lief.
Viele Leute fürchteten sich vor den neuen Bildern und denjenigen, die sie anfertigten. Mutter hatte jedoch eine so starke Stellung erlangt, in der sie nicht mehr angreifbar war; der leere Blick des Schädels auf dem Pfahl war eine wirkungsvolle Abschreckung. Doch Augen, ihre engste Jüngerin, war ein leichteres Ziel.
Eines Tages kam sie weinend zu Mutter. Sie war über und über mit Schlamm besudelt, und die komplizierten Muster, die sie sich auf die Haut gemalt hatte, waren verschmiert und abgewaschen worden. Auges sprachliche Fähigkeiten waren bescheiden geblieben, und Mutter musste sich auf ihr weitschweifiges Kauderwelsch konzentrieren, bis ihr klar wurde, was geschehen war.
Es war Ameisen-Esser gewesen, der Junge, der Interesse an Augen gezeigt hatte. Er hatte ihr wieder nachgestellt, und als sie ihrerseits kein Interesse an ihm gezeigt hatte, hatte er sich ihr aufzudrängen versucht. Aber sie wehrte sich. Also zerrte er sie zum See und warf sie ins Wasser, wo er sie mit Schlamm beschmierte und die Muster von der Haut zu entfernen versuchte.
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