Trotz des Opfers blieb der Regen aus. Die Leute warteten einen trockenen Tag nach dem andern, und kein Wölkchen erschien am ausgewaschenen Himmelszelt. Allmählich wurden sie unzufrieden. Insbesondere Honig lästerte immer offener über Mutter, Augen, Schössling und die anderen, die zu ihr hielten.
Doch Mutter saß das einfach aus. Sie wähnte sich nämlich im Besitz der Wahrheit. Es war nur so, dass Stiers Tod den Himmel und die Erde nicht hinreichend besänftigt hatte. Es ging nur darum, das richtige Angebot zu machen, mehr nicht. Sie musste sich nur in Geduld üben, auch wenn sie nur noch Haut und Knochen war.
Eines Tages kam Augen zu ihr. Sie wurde von Ameisen-Esser geführt. Obwohl sie ausgemergelt waren, erkannte Mutter, dass sie sich paaren wollten.
Ameisen-Esser mokierte sich diesmal nicht über sie, sondern flehte sie geradezu an. Und nun war es auch eine Art von Liebe oder Mitleid auf Seiten des jungen Mannes, denn die primitive Tätowierung, die Mutter Augen ins Gesicht geritzt hatte, war durch das stehende Wasser des Sees infiziert worden. Die Wendel war unter der nässenden Fleischmasse, zu der die eine Gesichtshälfte des Mädchens angeschwollen war, kaum noch zu sehen.
Doch Mutter runzelte die Stirn. Diese Paarung wäre nicht richtig. Sie stand auf und entzog dem betrübten Ameisen-Esser Augens Hand. Dann ging sie mit dem Mädchen zwischen den verstreuten Leuten umher, bis sie Schössling fand. Er lag auf dem Rücken und schaute in den Himmel.
Mutter drückte Augen neben Schössling in den Schmutz. Er schaute konsterniert zu Mutter auf. »Du. Du. Ficken. Jetzt«, sagte Mutter.
Schössling schaute auf Augen und versuchte sichtlich, seinen Ekel zu unterdrücken. Obwohl sie bei Mutter viel Zeit zusammen verbracht hatten, hatte er sich in sexueller Hinsicht nie für Augen interessiert; auch nicht, als ihr Gesicht noch nicht so schlimm entstellt war. Und das galt auch für sie.
Doch nun hielt Mutter den Zeitpunkt für gekommen, dass sie sich paarten. Ameisen-Esser wäre der Falsche gewesen; Schössling war der Richtige. Weil Schössling verstand. Sie stand über ihnen, bis Schösslings Hand zur kleinen Brust des Mädchens gewandert war.
Einen Monat nach Stiers Tod wurden die Leute durch ein lautes, schrilles Heulen geweckt. Es war Mutter. Verwirrt kamen sie angerannt, um zu schauen, welche Anwandlung sie nun schon wieder befallen hatte. Überhaupt fürchteten die meisten sich schon vor dieser beunruhigenden Frau in ihrer Mitte.
Mutter kniete neben dem Pfahl, auf den sie den Schädel ihres Kinds gesteckt hatte. Der Schädel lag zersplittert auf dem Boden. Mutter wühlte in den Splittern und klagte, als ob das Kind ein zweites Mal gestorben wäre.
Augen und Schössling hielten sich zurück und warteten auf Anweisungen von Mutter.
Mutter wiegte die kleinen Splitter des zerbrochenen Schädels in der Hand und ließ zornig den Blick über die Leute schweifen. Dann stieß sie die rechte Hand vor und zeigte auf jemanden. »Du!«
Leute wichen zurück. Köpfe drehten sich und folgten ihrer Blickrichtung. Mutter deutete auf Honig.
»Hierher! Kommen, kommen hierher!«
Honigs Doppelkinn schlotterte vor Angst. Sie wollte sich davonmachen, aber die Umstehenden hielten sie zurück. Schließlich trat Schössling vor, packte das Mädchen am Handgelenk und zerrte sie zu Mutter.
Mutter warf ihr die Splitter des Schädels ins Gesicht. »Du! Du werfen Stein. Du zerschmettern Junge.«
»Nein, nein, ich…«
»Du machen Regen nicht kommen«, sagte Mutter mit harter Stimme.
Honig quiekte entsetzt, als ob das womöglich stimmte, und Urin rann ihr an den Schenkeln herunter.
Diesmal musste Mutter sich nicht einmal selbst die Hände schmutzig machen.
Es fing auch am nächsten Tag nicht an zu regnen. Auch nicht am übernächsten. Doch am dritten Tag nach Honigs Opfer ertönte ein Donnergrollen am wolkenlosen Himmel. Die Leute kauerten sich in einem uralten Reflex zusammen, der noch aus der Zeit stammte, als Purga sich in ihrem Bau verkrochen hatte. Doch schließlich kam der Regen und fiel so heftig, als ob der Himmel seine Schleusen geöffnet hatte.
Die Leute rannten lachend umher. Sie legten sich auf den Rücken und ließen es sich in den Mund regnen, oder sie wälzten sich auf dem Boden und bewarfen sich gegenseitig mit Schlamm. Kinder balgten sich, und Babys wimmerten. Und es setzte ein instinktives lustiges Rudelbumsen ein, um das Ende der Dürre und den Neubeginn des Lebens zu feiern.
Mutter saß neben ihrer blutgetränkten Lagerstatt und betrachtete das alles wohlgefällig.
Wie immer dachte sie auf mehreren Ebenen gleichzeitig.
Dass sie Honig geopfert hatte, war wieder ein kluger politischer Schachzug gewesen. Honig war in diesem Sinn zwar keine Konkurrentin gewesen, aber ein Unruheherd, ohne den es Mutter leichter fallen würde, ihre Machtposition zu festigen. Zugleich war dieses Opfer eindeutig notwendig gewesen. Der Himmel und die Erde waren zufrieden gestellt; die ersten Götter der Menschheit waren beschwichtigt und hatten ihre Kinder leben lassen.
Auf einer wieder anderen Bewusstseinsebene war Mutter sich aber bewusst, dass der Regen auch ohne ihr Zutun gekommen wäre. Wenn es nach dem Opfer von Honig nicht geregnet hätte, wäre sie bereit gewesen, weiterzumachen und die Leute einen nach dem andern zu opfern – sie hätte ihren Speer sogar in Augens Herz gestoßen, wenn es hätte sein müssen.
All dieser Dinge war sie sich gleichzeitig bewusst; sie glaubte viele widersprüchliche Dinge auf einmal. Das war die Essenz ihres Genies. Sie lächelte, während das Wasser ihr übers Gesicht lief.
Schössling ging langsam am grasbewachsenen Flussufer entlang. Er trug nur eine um den Körper gewickelte Tierhaut und hatte nicht mehr bei sich als einen über die Schulter gehängten Speer und einen Netzbeutel, der ein paar Knochenwerkzeuge und Utensilien enthielt – aber keine Steinwerkzeuge. Im Bedarfsfall war es einfacher, an Ort und Stelle welche anzufertigen als sie zu transportieren.
Fünfzehn Jahre waren seit dem Tod von Stier und Honig vergangen und seit Mutter faktisch die Führung der Sippe übernommen hatte. Schössling war nun in den Dreißigern. Er war fülliger geworden und die Gesichtszüge härter. Das Haar lichtete sich schon und wurde grau. Die Tätowierungen an den Armen und im Gesicht ließen sich zwar nicht mehr entfernen, aber er hatte Schmutz und Lehm auf der Haut verrieben, damit sie wenigstens nicht so hervorstachen. Über die Jahre hatten die Tätowierungen Fremde provoziert, und das Misstrauen war auch so schon groß genug.
Er machte den Eindruck eines Jägers, der sich weit von seiner Gruppe entfernt hatte und vielleicht etwas Handel treiben wollte. Aber er war nicht allein; andere, die im Unterholz am Flussufer versteckt waren, beobachteten ihn auf Schritt und Tritt. Sein Aufzug war ein raffiniertes Täuschungsmanöver. Und sein Streifzug war alles andere als zufällig. Er war ein Späher.
Er wurde von einem Kind entdeckt, einem pummeligen kleinen Mädchen, das am Wasser mit glatt geschliffenen Kieseln spielte. Das vielleicht fünf Jahre alte Kind war nackt außer einer Perlenkette um den Hals. Es schaute erschrocken auf. Er verzog das Gesicht zu einer grinsenden Fratze. Sie schrie auf und rannte am Flussufer entlang, wie er sich das vorgestellt hatte. Er folgte ihr vorsichtig.
Bald sah er die ersten Anzeichen von Besiedlung. Der schlammige Boden war mit Fußabdrücken übersät, und er sah über den Fluss gespannte Fischernetze. Und hinter einer scharfen Flussbiegung sah er die Siedlung selbst. Aus einer Anzahl annähernd kegelförmiger Hütten stiegen Rauchfäden in den Nachmittagshimmel.
Das war kein vorläufiges Lager, wie er sofort erkannte. Die Hütten waren auf kräftigen Holzpfählen erbaut worden, die man tief in den Boden getrieben hatte. Diese Fluss-Leute waren schon seit einer Weile hier und beabsichtigten offensichtlich auch, hier zu bleiben.
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