Ein Blick auf den Fluss, und er wusste warum. Ein Stück flussaufwärts war die Vegetation auf beiden Seiten des Wassers niedergetrampelt worden, und er sah schimmernde Steine im Flussbett. Dies war eine Furt, wo wandernde Herden den Fluss durchquerten. Die Leute mussten nicht mehr tun, als darauf zu warten, dass die Tiere ihnen in die Arme liefen. Und wirklich sah er hinter den Hütten einen großen Knochenstapel aufgetürmt, der von Antilopen, Rindern und sogar von Elefanten zu stammen schien.
Am meisten wunderte er sich aber über die Hütten. Sie hatten massive Wände mit einer Rauchabzugs-Öffnung in der Kegelspitze, aber sonst keinen Lichteinlass. Wer sollte wohl in einer solchen Dunkelheit leben?
Zwei Erwachsene rannten auf ihn zu – beides Frauen, wie er sah. Sie hatten normale Holzspeere und Steinäxte und trugen wie er einen Lederumhang. Die Gesichter waren mit primitiven, aber wild aussehenden Ocker-Mustern bemalt, und beide hatten sich Knochen durch die Nasen gestoßen. Eine der Frauen richtete den Speer auf seine Brust. »Fu, fu! Ne hai, ne, fu…!«
Er verstand kein einziges Wort. Aber er hörte, dass dieses unartikulierte Geplapper wie das Kauderwelsch war, mit dem er aufgewachsen war; ihm fehlte die Struktur, die sich bei Mutters Leuten zunehmend ausprägte.
Das wäre eine leichte Übung.
Er rang sich ein Lächeln ab. Dann nahm er langsam den Beutel von der Schulter und ließ ihn auf den Boden fallen. Ohne die Frauen aus den Augen zu lassen, holte er eine Muschel heraus und legte sie vor den Frauen auf den Boden. Dann zog er sich mit ausgebreiteten, leeren Händen zurück. Ja, ich bin ein Fremder. Aber ich bin keine Bedrohung. Ich will Handel treiben. Und das habe ich anzubieten. Schaut, wie schön sie ist…
Die Frauen waren professionell. Eine hielt den Speer auf seine Brust gerichtet, während die andere sich bückte und die Muschel in Augenschein nahm.
Die Muschel hatte das Meer seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesehen und war seitdem über Langstrecken-Handelsrouten Hunderte Kilometer landeinwärts verschlagen worden. Und dann war sie von einem der besten Künstler der Leute, einem jungen Mädchen mit langen, schlanken Fingern mit einem wunderschönen Elefantenkopf-Muster verziert worden. Als die Frau den Elefantenkopf sah, stockte ihr der Atem. Sie schnappte sich die Muschel und drückte sie an die Brust.
Nun bedeuteten die Frauen Schössling mit einem Winken, ihnen in die Siedlung zu folgen. Er schritt lässig einher, ohne sich umzudrehen und hoffte, dass seine Gefährten sich bedeckt hielten.
In der Siedlung der Fluss-Leute erregte er Aufsehen. Die Leute, an denen er vorbeiging, schauten ihn böse an, und gleichzeitig starrten sie begehrlich auf die gravierte Muschel. Ein paar Kinder, einschließlich des Mädchens, das die anderen alarmiert hatte, liefen ihm neugierig hinterher.
Er wurde in eine der Hütten geführt. Es handelte sich um einen typischen Wohnraum mit einer ordentlichen Feuerstelle, Pritschen und aufgestapelten Nahrungsmitteln, Werkzeugen und Häuten. Es sah so aus, als ob zehn oder zwölf Leute hier lebten, einschließlich Kinder. Aber die Familie war ausgeflogen und hatte nur zwei bärtige Männer zurückgelassen, die mindestens in seinem Alter waren und die Frauen, die ihn hergebracht hatten. Der festgestampfte Boden war mit den üblichen Zeichen menschlicher Bewohnung übersät – Knochen, Steinsplitter von Werkzeugfertigung und ein paar halb verzehrte Wurzeln und Früchte.
Die Männer saßen vorm schwelenden Holz der Feuerstelle. Sie alle hatten sich große Knochen durch die Nasenspitzen getrieben. Einer von ihnen machte eine Geste. »Hora!« Das Wort war fremd, die Geste unmissverständlich. Schössling setzte sich an die gegenüberliegende Seite des Feuers. Man bot ihm eine gekochte Wurzel zum Essen und eine dicke Flüssigkeit zum Trinken an. Während er sein Warensortiment ausbreitete, schaute er sich mit gierigen Blicken in der Hütte um. Die Feuerstelle war im Gegensatz zu den simplen Löchern, die Mutters Leute gruben, sauber ausgehoben und befestigt. Und daneben war eine Mulde, die mit Tierhäuten ausgelegt und mit Wasser und großen flachen Flusssteinen gefüllt war. Er sah sofort, dass das Wasser erwärmt wurde, indem man die im Feuer erhitzten Steine hineinwarf. Und da war ein Gebilde aus Lehmziegeln und Stroh, dessen Funktion sich ihm jedoch nicht erschloss: Er hatte noch nie zuvor einen Ofen gesehen. Es gab auch noch ein paar andere ungewöhnliche Artefakte, wie sauber gearbeitete Körbe und eine Schüssel, die aus etwas gemacht war, das er auf den ersten Blick für Holz hielt und das sich dann als eine Art gehärteter Ton entpuppte.
Am meisten staunte er aber über die Lampen.
Sie waren einfache Tonschüsseln mit Tierfett und mit Wacholderzweiglein als Dochte. Aber sie brannten stetig und erfüllten die Hütte mit einem klaren gelben Licht. Nun war ihm auch klar, wieso diese Hütten keine Fenster brauchten. Die Gedanken überschlugen sich, als er sich bewusst wurde, dass diese Lampen einem überall Licht spenden würden, wo man es brauchte, selbst in stockfinsterer Nacht und ohne ein Feuer.
Es war klar, dass diese Leute seiner Sippe hinsichtlich der Werkzeugfertigung weit voraus waren. Aber ihre Kunst war viel bescheidener, obwohl ein paar von ihnen Ketten mit den Perlen trugen, wie er sie schon um den Hals des kleinen Mädchens gesehen hatte – Perlen, von denen sich herausstellte, dass sie aus dem Elfenbein von Elefanten-Stoßzähnen gearbeitet waren.
Deshalb überraschte es ihn auch nicht, dass die Alten von der Produktpalette fasziniert waren, die er ihnen präsentierte. Sie umfasste Elfenbein- und Knochenfiguren von Tieren und Menschen, abstrakte und gegenständliche Bilder, die als Muschel- und Sandsteinreliefs gearbeitet waren und eine von Mutters speziellen Kreationen, ein Wesen mit dem Körper eines Menschen und dem Kopf eines Wolfs.
Das war eine Reaktion, wie er sie schon viele Male erlebt hatte. Die Kunst von Mutters Leuten war in den zwei Jahrzehnten seit ihren ersten Versuchen zu großer Blüte gelangt. Die Leute waren mit ihren großen Gehirnen und geschickten Fingern dafür bereit gewesen; es hatte nur jemand kommen müssen, der ihnen eine Vorlage lieferte – genauso wie diese intelligenten Fluss-Leute für die Kunst bereit waren. Es war, als ob Mutter ein Staubkorn in eine supergesättigte Lösung geworfen hätte, wo sich sofort ein Kristall gebildet hatte.
Bei der Kommunikation mit diesen Fluss-Leuten musste Schössling sich mit Zeichensprache behelfen und auf den Instinkt verlassen. Aber die ›Geschäftsgrundlage‹ war bald klar. Sie würden Handel treiben, Schösslings Kunst gegen die fortschrittlichen Werkzeuge und Artefakte dieser sesshaften Fremden.
Als er am nächsten Tag gegen Mittag wieder mit seinen versteckten Gefährten zusammentraf, hatte er einen Beutel mit ›Warenproben‹ dabei. Und er hatte sich die Lage jedes Ofens, jeder Feuerstelle gründlich eingeprägt.
Er hatte das alles für Mutter getan, wie er schon so viele ähnliche Aufträge für sie ausgeführt hatte. Nur dass Mutter nicht hier an seiner Seite war und die Arbeit und die Risiken nicht teilte. In seinem Herzen verspürte er zu seinem Erstaunen einen Anflug von Ressentiment.
Mutter saß am Eingang der Hütte. Sie saß im Schneidersitz da und hatte die Hände auf die Knie gelegt. Das Gesicht hatte sie der Sonne zugewandt, und der Rücken wurde vom niederbrennenden Feuer der letzten Nacht gewärmt. Sie wurde alt und dünn und schien leicht zu frieren. In diesem Moment fühlte sie sich jedoch wohl und verspürte eine gewisse Zufriedenheit.
Jeder Quadratzentimeter der Haut war mit Tätowierungen bedeckt. Selbst die Fußsohlen waren mit Gittermustern verziert. Sie trug einen Lederumhang, was sie meistens tat, sodass ein großer Teil des Körperschmucks verborgen war. Die freiliegenden Körperpartien waren aber farbige, lebendige Kunstwerke mit springenden Tieren, fliegenden Speeren und explodierenden Sternen. Und auf einem Holzpfahl neben ihr steckte der Schädel ihres lange toten Kinds, den sie mit einem aus Baumharz hergestellten Klebstoff wieder zusammengefügt hatte.
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