»Wie könnte ich die jemals vergessen?«
»Weißt du noch, wie ich da reingekommen bin? Durch das gekippte Fenster. Du läufst jetzt mal schnell in Carolins Schlafzimmer. Vielleicht haben wir Glück, und die Balkontür ist dort ebenfalls gekippt. Da kommst du raus.«
Auf so eine Idee kann auch nur eine Katze kommen.
»Beck, dein Vertrauen in meine artistischen Fähigkeiten in allen Ehren, aber das kann ich nicht. Selbst wenn das Fenster auf Kipp steht: Da komme ich nie im Leben durch. Auch wenn du - verzeih - fett bist, du kannst dich auf eine Art und Weise durch Lücken durchzwängen, die ich einfach nicht draufhabe. Da bleibe ich garantiert stecken.«
»Du hast ja so gar keinen Ehrgeiz. Lass uns doch wenigstens mal gucken. Ich komme durch den Garten auf euren Balkon, und dann checken wir die Lage. Wäre doch toll, so ein abendlicher Spaziergang ganz ohne Menschen.«
Herr Beck beziehungsweise sein Geruch verschwindet.
Dieser Kater. Das wird doch nie im Leben was. Und so langweilig, dass ich hier Kopf und Kragen riskiere, ist mir dann auch wieder nicht. Andererseits - mal allein nachts im Park rumzustromern, ist natürlich auch ein reizvoller Gedanke. Ich seufze innerlich, dann trotte ich ins Schlafzimmer.
Tatsächlich, die Balkontür ist gekippt. Allerdings beginnt der Spalt erst weit oberhalb meines Kopfes, richtig breit zu werden. In diesem Moment springt Herr Beck von der mit Efeu bewachsenen Hauswand auf unseren Balkon.
»Na, das sieht doch gut aus!«, ruft er mir fröhlich zu.
»Was, bitte, sieht daran gut aus?«
»Die Tür steht auf kipp. Ist doch prima.«
»Ja, aber hier unten passe ich noch nicht durch und weiter oben komme ich nicht ran. Das können wir vergessen.«
»Kannst du da nicht hochspringen?«
»Ne, wie denn?«
»Und wenn du dich am Vorhang hochhangelst?«
»Herr Beck, du machst dir eindeutig die falschen Vorstellungen über meine Krallen. Mit denen kann ich mich nirgendwo dranhaken, wie du das machst. Dafür sind die viel zu gerade und zu glatt.«
»Tja, dann wird's schwierig.«
»Sag ich ja.«
Eine Weile sitzen wir da und gucken uns durch die Balkontür an. Dann kommt zur Abwechslung mal mir eine gute Idee. Ich sehe mich kurz im Zimmer um und wirklich: In der Ecke steht der Stuhl, auf den Carolin abends immer ihre Klamotten legt, wenn sie ins Bett geht. Er ist ziemlich massiv und hat auch eine hohe Lehne - wenn ich den als Leiter nehme, dann könnte es vielleicht klappen. Ich trabe zu dem Stuhl und versuche, ihn zur Balkontür zu schieben. Puh, ist der schwer!
»Schaffst du es oder soll ich reinkommen?«
»Bleib lieber, wo du bist. Entweder ich kriege es allein hin, oder wir vergessen die Sache mit dem gemeinsamen Ausflug.«
Ich lehne mich mit meinem ganzen Gewicht gegen den Stuhl. Endlich bewegt er sich ein Stück. Ich lehne mich noch einmal gegen das linke Bein, er rückt weiter. Dann rechts, dann wieder links - Stückchen für Stückchen schiebe ich den Stuhl mit meiner Brust durch das Zimmer. Eine sehr mühsame Angelegenheit, aber schließlich ist es geschafft. Der Stuhl steht genau vor dem Spalt der Balkontür.
Ich hüpfe auf die Sitzfläche. Tatsächlich. Von hier oben sieht die Sache doch schon sehr vielversprechend aus. Eigentlich müsste ich schon fast durchpassen.
»Los! Worauf wartest du?«, drängelt Beck.
»Keinen Stress! Ich muss mich konzentrieren.«
Ohne einen kleinen Sprung wird es nicht gehen - schließlich will ich nicht stecken bleiben. Aber um zu springen, brauche ich ein bisschen Anlauf, und das ist auf dem Stuhl unmöglich. Mist, ich müsste einfach noch ein Stück höher sein, dann wäre es deutlich einfacher.
»Herkules, schau mal, ob du mit der Schnauze an den Griff kommst. Vielleicht kannst du die Tür ganz öffnen, wenn du den Griff mit den Zähnen zu packen kriegst. Dann musst du ihn nur noch nach unten ziehen.«
Was heißt denn hier nur noch? Sind wir hier im Zirkus? Das Öffnen von versperrten Türen durch kleine Dackel fällt doch wohl eindeutig unter technische Kunststücke.
»Probier's einfach mal, das kann doch nicht so schwer sein!«
Der hat gut reden, wie er da auf seinem dicken Hintern sitzt. Andererseits - vielleicht ist die Idee nicht so schlecht. Auf alle Fälle besser, als bei einem Sprung in dem Spalt stecken zu bleiben. Ich mache also Männchen, bekomme tatsächlich den Griff der Tür zu fassen, schnappe zu und lasse mich dann wieder auf die Sitzfläche fallen. Mit einem Ruck bewegt sich der Griff nach unten - und die Tür schwingt auf! Sensationell! Ich, Carl-Leopold von Eschersbach, habe soeben eine Balkontür geöffnet!
Meine Euphorie währt allerdings nur einen kurzen Augenblick. Denn zwei Sekunden später stehe ich zwar neben Herrn Beck auf dem Balkon, aber schnell wird mir klar, dass unser Spitzenplan nicht bis zu Ende gedacht war. Wie, zum Geier, komme ich von diesem Balkon herunter?
NEUNZEHN
»Ich bin ein Held, ein Supermann, ein Superdackel!« »Hast du diesen Satz gesehen? War das nicht phänomenal? Geradezu eine Sensation?« »Ja, war ganz gut.«
»Ganz gut? Es war PERFEKT! Ich habe es einfach drauf, mein Lieber.« Herr Beck scheint nicht ganz zu begreifen, dass dies gerade eine athletische Jahrhundertleistung war. »Ich meine, hast du schon mal einen anderen Dackel gesehen, der aus dem ersten Stock gesprungen ist? Ich würde sagen, ich gehe mittlerweile als Katze durch.«
Beck schüttelt den Kopf. »Also, wie ich schon sagte: Es war okay. Aber erstens ist das eher Hochparterre und zweitens bist du in den Wäschekorb der alten Meyer gesprungen. Wenn ich den nicht gefunden hätte, würdest du immer noch vor dem Balkongeländer hocken und weinen.«
Ist es denn die Möglichkeit? Dieser fette Kater! Mir ist kein anderer Dackel bekannt, der jemals so ein waghalsiges Manöver ausgeführt hätte. Allein die Meisterleistung, sich durch die Stäbe des Balkongeländers zu zwängen, dem sicheren Abgrund entgegen. Und dann der Sprung selbst: zielsicher in den Wäschekorb mit Handtüchern von Frau Meyer. Und das im Dunkeln! Gut, wenn die Meyer den Korb nicht draußen hätte stehen lassen, wäre es in der Tat ein wenig komplizierter geworden. Aber mutig war die Aktion allemal. Ich hätte schließlich auch unglücklich neben dem Korb landen und mir alle Pfoten brechen können.
»So, wenn du dich von deiner Heldentat ausreichend erholt hast, können wir doch mal los, oder?«
Böse funkele ich Beck an, was der leider nicht sehen kann, weil es schon dunkel ist. Andererseits ist es auch langweilig, hier weiter zwischen den Handtüchern zu hocken. Und so beschließe ich in einem Akt wahrer Größe, Herrn Beck zu verzeihen, obwohl er sich nicht entschuldigt hat.
Ich hüpfe aus dem Korb und trabe hinter Beck her, der schon Richtung Gartenpforte strebt. Ein leichter Wind weht mir um die Nase, es riecht schon ein bisschen nach Abenteuer. Auch wenn Herr Beck eine blöde Katze ist, in einem hat er natürlich völlig Recht: So ein Spaziergang ohne Carolin ist die beste Gelegenheit, endlich einmal auf die Jagd zu gehen. Sofort spüre ich dieses angenehme Kribbeln in der Nase, und meine Rute wippt automatisch nach oben. Nehmt euch in Acht, ihr Kaninchen! Carl-Leopold von Eschersbach will euch an den Kragen - und er wird euch kriegen.
Im Park angekommen, ist von Kaninchen erst einmal nichts zu sehen und zu riechen. Ob die schon alle im Bau liegen und schlafen? Egal, ich werde sie schon aufstöbern. Herr Beck ist eher auf Vögel spezialisiert, da kommen wir uns schon mal nicht ins Gehege. Mit der Nase dicht über dem Boden laufe ich den Kiesweg entlang. Nach ein paar Metern ein sehr vielversprechender Geruch: Hier muss vor kurzem noch ein Kaninchen entlanggehoppelt sein, wahrscheinlich auf dem Weg in seinen Bau. Ich bin ganz aufgeregt! In einem Kaninchenbau sind bestimmt gleich ein paar Kollegen, da werde ich den ein oder anderen schon erwischen. Tatsächlich wird der Geruch immer stärker. Ich verlasse den Weg und trabe auf die Wiese, in Richtung einiger großer Büsche.
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