Ich trotte wieder zurück zu meiner Kiste. Eben hatte ich noch so gute Laune, die ist schlagartig verflogen. Mit dem Kopf auf meinem Kuschelkissen brummle ich beleidigt vor mich hin. Immer machen wir, was Carolin will. Das ist so ungerecht. Mittlerweile hat sich das Gefühl in meinem Bauch von einem gesunden Appetit zu einem ausgewachsenen Löwenhunger gesteigert. Ich beginne ein bisschen zu fiepen. Carolin soll ruhig wissen, dass sie sich haarscharf an der Grenze zur Tierquälerei bewegt.
»Mach doch nicht so ein Theater!«, kommt es herzlos aus ihrem Zimmer. »Es geht ja gleich los. Wir müssen nur noch etwas aus der Wohnung holen und dann starten wir auch schon. Unser Chauffeur müsste in ungefähr dreißig Sekunden vor der Haustür stehen.«
Unser Chauffeur? Das klingt nun wieder spannend. Das Wort habe ich seit mehreren Monaten nicht mehr gehört, und es weckt gleich Erinnerungen an alte Zeiten. Denn selbstverständlich gab es auf Schloss Eschersbach auch einen Chauffeur. Der alte von Eschersbach setzte sich nämlich nur noch höchst ungern selbst ans Steuer. »Meine Augen sind einfach zu schlecht geworden, da wäre ich eine Gefahr für die Allgemeinheit«, pflegte er gerne zu erklären, wenn er darauf wartete, dass sein Wagen vorfuhr, um ihn zu einer Jagdgesellschaft zu bringen. Die meisten Mitmenschen dürften sich an dieser Stelle die Frage gestellt haben, ob es eigentlich eine gute Idee war, mit von Eschersbach auf die Jagd zu gehen. Meines Wissens ist allerdings nie etwas passiert, wahrscheinlich war die Nummer mit dem Chauffeur also nur eine aristokratische Form von Angeberei.
Es klingelt, und Carolin geht an meiner Kiste vorbei, um die Tür zu öffnen. Dort steht: Jens!
»Guten Morgen, Carolin. Guten Morgen, Herkules!«, werden wir von ihm begrüßt.
Ich muss zugeben, dass Jens ohne schwarze Mützenmaske und ohne Gewehr eigentlich sehr nett aussieht.
Er gibt Carolin links und rechts einen Kuss auf die Wangen. »Na, ihr zwei? Alles bereit für unser Picknick?«
»Klar, ich muss nur schnell den Korb von oben holen. Ich habe ein paar Sachen kalt gestellt, die packe ich noch ein.«
Sie hüpft die Treppe hoch, ich bleibe neben Jens sitzen.
»Na, biste wieder fit?«, will er von mir wissen. Ich schaue ihn neugierig an. »Und hat dir meine Wurst geschmeckt?«
Okay, laut Herrn Beck war die Nummer mit der Wurst reine Bestechung, aber da ich ein höflicher Dackel bin und die Wurst tatsächlich lecker war, wedele ich ein bisschen mit dem Schwanz. Dann kommt mir der Gedanke, dass, wo eine Wurst ist, wohlmöglich auch zwei Würste sein könnten, und ich wedele noch euphorischer.
»Wusste ich es doch, braver Hund!« Er beugt sich zu mir herunter und krault mich ein bisschen hinter den Ohren. In diesem Moment kommt Carolin mit einem gigantischen Korb die Treppe herunter.
»Das ist ja schön, dass ihr euch schon ein bisschen anfreundet. Euer letztes Treffen war schließlich nicht so harmonisch.«
Jens lacht. »Ich habe immer noch einen blauen Fleck an der Stelle, wo Herkules zugeschnappt hat. Aber Schwamm drüber, er wollte euch schließlich retten. Außerdem habe ich jetzt endlich wieder einen wirksamen Tetanusschutz. Es stellte sich heraus, dass meine letzte Impfung schon viel zu lange her ist. Hatte die Sache also etwas Gutes. Und mein kleines Präsent ist offensichtlich auch bestens angekommen.«
Carolin nickt. »Ja, Herkules hat ungefähr zwanzig Sekunden gebraucht, um die Wurst aufzufuttern. Hat ihm sehr gut geschmeckt.«
Auweia, wenn die hier noch weiter über Hundewurst reden, breche ich zusammen. Vor lauter Hunger ist mir mittlerweile schon ganz schwindelig. Hoffentlich dauert es nicht mehr so lange, bis ich etwas zu fressen bekomme. Wobei der Korb, den Carolin aus der Wohnung geholt hat, auch so riecht, als sei etwas sehr Leckeres darin. Unwillkürlich fange ich an zu sabbern.
»Dann können wir los, oder?«
»Jupp, abmarschbereit!«, ruft Carolin fröhlich und öffnet die Haustür. Jens marschiert an ihr vorbei und auf das Auto zu, das direkt vor dem Haus parkt.
»Bitte einsteigen!« Schwungvoll reißt er die Beifahrertüre auf.
»Komm, Herkules!«, ruft Carolin - doch ich zögere. Das Auto sieht irgendwie komisch aus. Irgendwie - gefährlich. Erst komme ich nicht drauf, was genau mich so stört. Aber als mich Carolin hochhebt, um mich in das Auto zu setzen, ist es unübersehbar. Das Auto: Es hat kein Dach!
Zwanzig Minuten später sind meine Bedenken, in etwas sehr Schnelles einzusteigen, aus dem man herausfallen könnte, verflogen. Ich sitze auf Carolins Schoß, halte die Nase in die herrliche Sommerluft, und meine Öhrchen wehen im Wind. Ein Traum! Jens und Carolin unterhalten sich gut gelaunt. Worüber, kann ich gar nicht genau sagen, denn es rauscht so in meinen Ohren, dass ich nicht besonders gut höre. Aber das ist auch egal. In diesem Moment habe ich das Gefühl zu fliegen, und das fühlt sich einfach großartig an. Die Bäume am Straßenrand rauschen nur so vorbei und verschwimmen dabei zu einer hellgrünen Hecke, der Himmel über uns ist blau und weit; ich könnte eigentlich stundenlang so weiterfahren. Eigentlich. Denn leider zwickt mich mein Bauch noch etwas, ich hoffe also, dass gleich der Moment gekommen ist, in dem Carolin den Korb mit Leckereien aus dem Kofferraum holt.
Tatsächlich fährt Jens nun langsamer, und die grüne Wand wird wieder zu einzelnen Bäumen. Schließlich hält er an.
»So, da wären wir. Moment, ich helfe dir!«
Jens springt aus dem Auto, läuft herum und öffnet Carolins Tür. Sehr aufmerksam, das muss ich schon sagen. Ich hüpfe von Carolins Schoß, dann reicht Jens Carolin die Hand und hilft ihr hinaus. Hm, hier riecht es gut. Nach Wald und Wasser und irgendwie ein bisschen wild. Mit dem Picknickkorb bewaffnet, marschieren wir auf ein kleines Wäldchen zu, das an einem Abhang liegt. Treppenstufen führen hinunter zu einer Lichtung. Dort bleiben wir einen Moment stehen.
»Schau mal«, Jens zeigt nach vorne, »ist das nicht ein toller Blick?«
»Ja, sieht toll aus, wenn die Elbe so in der Sonne glitzert.«
Klingt gut, aber falls es jemanden interessiert: Ich kann leider nichts sehen. Meine kurzen Beine bringen mich genau auf die Höhe der Brennnesseln, die links und rechts der Treppenstufen wuchern. Ob mich einer von den beiden hochhebt? Ich will auch mal gucken! Ich mache Männchen.
»Ich glaube, Herkules hat langsam echt Kohldampf«, wertet Carolin mein Anliegen völlig falsch. »Normalerweise bekommt er schon um 11 Uhr etwas zu essen.«
»Wir sind gleich da. Da vorne beginnt schon der Strand.«
Okay, auch gute Nachrichten. Endlich was zu essen. Aber was ist Strand? Am Ende des zweiten Treppenabsatzes angelangt, hört der Wald komplett auf, und wir überqueren einen kleinen Weg. Jetzt kann ich auch sehen, woher der Wassergeruch kommt: Vor uns liegt ein sehr großer Fluss. Ein wirklich sehr, sehr großer Fluss, wenn man nach der Größe des Schiffes geht, das gerade an uns vorbeifährt. Gigantisch, so etwas habe ich noch nie gesehen! Es sieht aus wie ein riesiges, fahrendes Haus. Ich kläffe aufgeregt, Carolin lacht.
»Da staunst du, Herkules! Wir waren bisher nur an der Alster, Herkules kennt maximal Segelboote.«
»Dann war es höchste Zeit, dass er mal ein richtiges Schiff sieht. Man kann doch nicht in Hamburg leben und die Elbe nicht kennen!«, ruft Jens fast vorwurfsvoll. Wir laufen weiter auf das Ufer zu - und landen in einer gigantischen Sandkiste. Ich mache eine Vollbremsung, denn Sand an meinen Pfoten ist für mich mittlerweile ein untrügliches Zeichen, dass gleich eine Menschenmutter um die Ecke biegen wird, um mich ganz doll auszuschimpfen. Aber komisch, ich habe gar keine Holzumrandung gesehen. Unsicher bleibe ich sitzen.
»Jetzt sag bloß, dein Hund war auch noch nie an einem Strand? Er scheint sich fast ein bisschen zu fürchten.«
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