Der Mantel des Weihnachtsmannes ist ziemlich lang, bestimmt bekomme ich ein Stück davon zu fassen, wenn ich mich genug recke. Ich pirsche mich also an ihn heran, strecke meine Nase so weit wie möglich nach oben – und packe zu. Schnapp! Schon habe ich den Saum des Mantels im Maul und fange an, daran zu ziehen. Erst merkt der Weihnachtsmann nichts, aber dann mache ich einen richtigen Satz nach hinten und bringe ihn dabei ins Wanken.
»Hey, Herkules, spinnst du jetzt völlig?«
Wuff! Woher kennt der meinen Namen? Und warum klingt die Stimme plötzlich so anders, längst nicht mehr so tief? Hier ist doch ein Betrug im Gange, ich bin mir mittlerweile ganz sicher. Ich packe fester zu und zerre, so doll ich kann. Rrrratsch – ich halte einen Stofffetzen im Maul und schaue erstaunt nach oben. Tatsächlich, dem Weihnachtsmann fehlt ein großer Teil seines Mantels, und darunter kommt ganz normale menschliche Kleidung zum Vorschein. Eine Hose und ein Pullover. Und noch etwas anderes kommt ans Tageslicht, denn jetzt nimmt der Weihnachtsmann seine Mütze ab – und den Bart gleich mit. Es ist Alex, Ninas Freund!
»Mensch, Herkules! Ich würde sagen, du hast den Top Act geschrottet!«
Alex klingt sehr vorwurfsvoll, und obwohl ich nicht weiß, was ein Top Act ist, bin ich mir nicht mehr so sicher, dass es eine gute Idee war, den Weihnachtsmann gerade heute zu enttarnen. Ein Blick in die enttäuschten Gesichter von Caro und Marc bestätigt diese Einschätzung. Marc murmelt etwas, das wie so eine Mühe gemacht für das Kind, und dann dieser blöde Köter … klingt. Carolin schüttelt ununterbrochen den Kopf, so als könne sie einfach nicht fassen, dass ihr Herkules so einen Blödsinn macht. Auch Hedwig, Elke und Klaus schauen betreten zwischen mir und Alex hin und her. Wuff, schlechte Idee. Mist! Ich habe das Fest zerstört. Mein erstes richtiges Familienfest – und ich hab’s versaut.
Mit gesenktem Kopf trotte ich aus dem Zimmer und rolle mich in meinem Körbchen, das Marc heute Morgen in den Flur gestellt hat, zusammen. Am besten bleibe ich hier den ganzen Abend liegen, vielleicht vergessen dann alle, dass ich es war, der den Weihnachtsmann enttarnt hat. Wobei – unwahrscheinlich. Die meisten Menschen haben leider ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Das ist wahrscheinlich auch eine Trainingsfrage, und weil sich Menschen sehr gerne mit Dingen beschäftigen, die längst abgeschlossen sind und in der Vergangenheit liegen, haben sie natürlich unglaubliche Übung darin. Nein, sie werden meinen kleinen Auftritt so schnell nicht vergessen. Eher wird mir das noch die nächsten fünf Weihnachten vorgehalten werden, wenn ich überhaupt noch einmal mitmachen darf. Es ist zum Heulen!
»Armer Herkules! Du wolltest uns nur vor dem fremden Mann beschützen, nicht?« Luisa ist mir gefolgt und kniet sich neben mein Körbchen. »Du bist eben ein tapferer Jagdhund! Komm doch wieder rein, es ist bestimmt keiner mehr sauer auf dich. Ich habe Papa und Carolin jetzt erzählt, dass ich gar nicht mehr an den Weihnachtsmann glaube. Ich habe eben doch nur so getan, um Papa eine Freude zu machen. Und Alex hab ich sowieso gleich erkannt. Also alles gut, Süßer! Und außerdem habe ich auch ein Geschenk für dich, das möchtest du doch bestimmt haben, oder?«
Ach, Luisa, du bist wirklich das liebste Menschenkind, das ich kenne! Eine wahre Freundin! Ich schüttle mich kurz, dann richte ich mich auf und hüpfe aus meinem Körbchen. Zurück im Wohnzimmer scheint die Stimmung tatsächlich nicht schlecht zu sein. Alex hat seine Verkleidung komplett abgelegt und sitzt mit Caro auf dem Sofa, auch er hält mittlerweile ein Glas Champagner in der Hand. Als er mich sieht, steht er auf.
»Auweia! Da kommt der Killer-Dackel! Da muss ich mich ja wohl in Sicherheit bringen.«
Er lacht fröhlich, und auch die anderen beginnen zu lachen. Uff, dann ist ja alles wieder gut. Luisa kommt zu mir und hält mir etwas Großes, Braunes unter die Nase: einen gigantischen Kauknochen!
»Hier, Herkules, mein Geschenk für dich! Fröhliche Weihnachten!« Toll! Noch nie im Leben habe ich ein Weihnachtsgeschenk bekommen! Ich bedanke mich, indem ich Männchen mache und gleichzeitig mit dem Schwanz wedele. Keine leichte Übung, aber sie gelingt mir mit großer Eleganz.
Alex trinkt sein Glas aus, stellt es ab und klopft auf den Wohnzimmertisch.
»Ich sach mal: Der Weihnachtsmann muss jetzt los zu seinem Weib! Also feiert noch schön und fröhliche Weihnachten!«
»Grüß Nina!«, bittet ihn Carolin.
Als er gegangen ist, geben sich auch alle anderen ihre Geschenke. Luisas sind noch in dem großen Sack, den Alex hereingeschleppt hat, ich helfe ihr, sie dort herauszuzerren. Besonders freut sie sich übrigens über das Geschenk, das ich mit Marc gekauft habe. Na gut, gekauft hätte , wenn wir nicht aus dem Kaufhaus geflogen wären. Aber das war ja nicht meine Schuld. So gesehen ist es trotzdem auch mein Geschenk!
»So, ihr Lieben, zu Tisch!«, scheucht uns Oma Hedwig schließlich ins Esszimmer. »Die Gans ist fast fertig, und ich möchte euch schon mal den ersten Gang servieren.«
»Das ist ja toll, wie du uns umsorgst«, lobt sie Klaus Neumann.
»Ja«, pflichtet ihm Marc bei, »Mutter hat heute Vormittag extra noch für die Vorspeise eingekauft, ich war zeitlich ein bisschen knapp.« Den Teil der Geschichte, dass er Hedwig auch mal kurz aus der Wohnung haben wollte, damit sich die Wogen glätten, verschweigt er natürlich. Für menschliche Harmonie, so viel habe ich mittlerweile gelernt, ist eben nicht nur wichtig, was man sagt, sondern ebenso wichtig, was man nicht sagt. Wenn nicht noch wichtiger.
»Setzt euch doch schon, ich bringe die Teller gleich rein«, dirigiert Hedwig jeden an seinen Platz. Ich hoffe, dass sie auch für mich eine Kleinigkeit besorgt hat, und lege mich erwartungsfroh neben den Tisch.
Hedwig verschwindet in der Küche, um kurz darauf mit sehr vielen Tellern auf dem Arm wieder herauszukommen, die sie Marc, Caro, Klaus und Elke direkt vor die Nase stellt. Ich kann zwar nicht sehen, was sich darauf befindet, aber eines sagt mir meine Nase deutlich: Es ist keine Rindfleischsuppe. Es ist FISCH. Brrrr. Davon will ich doch nichts.
Neben mir rumpelt es, dann fällt ein Stuhl um. Erschrocken springe ich zur Seite. Was ist denn hier los? Carolin ist wie der Blitz von ihrem Platz hochgesprungen und rennt aus dem Zimmer, die anderen schauen ihr erstaunt hinterher. Hedwig räuspert sich.
»Marc, was ist mit deiner Frau los? Will sie mich unbedingt kränken?«
»Äh, sie mag keinen Fisch. Ich hatte dich doch gebeten, eine Markklößchen-Suppe zu besorgen.«
»Aber das ist Balik-Lachs mit Kaviar. Das haben wir immer an Weihnachten gegessen, als dein Vater noch lebte.« Hedwig klingt schwer getroffen. »Ich dachte, ihr freut euch. Ich dachte, du freust dich.« Sie fängt an zu schluchzen. »Weißt du, das hätte Carolin mir jetzt auch anders sagen können. Ich gebe mir solche Mühe – und sie ist so gemein zu mir. So gemein!« Jetzt weint Hedwig richtig.
Klaus und Elke schweigen betreten. Los, Marc! Tu was! Caro ist nicht gemein, sie ist krank! Du musst es den anderen jetzt erklären. Und offen gestanden will ich auch endlich wissen, woran mein Frauchen leidet.
»Mutter, das war nicht böse gemeint. Wirklich nicht. Aber Carolin verträgt keinen Fisch. Ihr wird davon sofort schlecht.«
Elke Neumann mischt sich ein.
»Du meine Güte, seit wann verträgt sie denn keinen Fisch mehr? Ist sie etwa krank? Eine Allergie?«
Marc schüttelt den Kopf.
»Nein, sie ist nicht krank.«
Wuff? Ist sie nicht? Gott sei Dank! Mir fallen ganze Wagenladungen Steine von meinem kleinen Dackelherzen. Aber … was hat sie dann?
»Carolin ist schwanger. Wir bekommen ein Baby. Wir wollten es euch eigentlich nach dem Essen sagen.«
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