Frau Ljuba ist traurig. Eigenständig solch eine Schule aufzuziehen, daran ist bei dem geringen Einkommen als Lehrerin und dem, was sie als Alleinerziehende von ihrem Mann bekommt, nicht zu denken.
Und wir unsererseits leben in zwei getrennten Wohnungen.
Februar 2019
Deutschland, Monte Scherbelino bei Stuttgart
Raum für alle hat die Erde
Friedrich Schiller
Der Gipfel des Berges, den wir heute besteigen, besteht aus den Trümmern von Häusern und Bauwerken, die im Zweiten Weltkrieg bei den Bombardierungen durch amerikanische und englische Flugzeuge in den Jahren von 1940 bis 1945 zerstört wurden.
Der Weg windet sich in Serpentinen in steiler Steigung empor. Oben ragt ein Kreuz, ringsum der weite Himmel. Luft und Licht allüberall.
Und das Gefühl: Die Welt gehört dir. Sie ist endlos. Und liegt dir zu Füßen, dort unten.
360 Grad um dich herum: wunderschönes Blau.
Doch außerdem: die Überreste von Gebäuden.
Ich stehe auf dem höchsten Punkt eines Trümmerhaufens und blicke auf das Kreuz und in den Himmel. Er ist sehr hell und klar, ohne ein einziges Wölkchen, makellos rein und sehr groß. In ihm ist Stille.
Nur die Steine unter meinen Füßen – die leben. Ich spüre, wie viel sie wissen. Behutsam schaue ich um mich herum. Da eine Säule… Dort ein Rundbogen… Hier eine Löwenfigur…
Ich lege dem Löwen die Hand auf den Kopf. Ein Stück vom Maul ist ihm abgeschlagen. Ich streiche über seine wellige Mähne. Sie ist warm… Heute ist ein sehr warmer, sonniger Tag.
Nach Hause zurückgekehrt, öffne ich Wikipedia.
«1,5 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt von den zerbombten Gebäuden wurden auf den Birkenkopf geschafft.
«Im Lauf des Krieges wurden 142 000 Bomben über Stuttgart abgeworfen.»
«4590 Menschen verloren durch die Luftangriffe ihr Leben.»
«Durch die Bombardements wurden in der Stadt 3912 Gebäude zerstört oder beschädigt.»
«Die Alliierten verloren bei den Angriffen auf Stuttgart 300 Flugzeuge und 2400 Angehörige ihrer Luftwaffe.»
Ich greife nach einem Blatt Papier und einem Kugelschreiber und beginne rasch zu schreiben. Auf Deutsch.
Der Himmel (Himmelblau überall)
Ist hier ein Gott.
Kein Wind, sehr still und friedlich
An diesem Ort.
Man spürt nur, wie atmet
Ein alter Berg
Und zwischen Krieg und Frieden
DU, als Mensch, ein Zwerg.
Winter 2005—2006
Ein kleines Dorf am Bodensee
Mein Mann, von Beruf Maschinenbauingenieur, hat einen neuen Auftrag: von einem Konzern, der Flugzeuge herstellt. Das Konstruktionsbüro befindet sich in einem kleinen Ort am Bodensee. Die Firma hat ihm eine nette kleine möblierte Wohnung gemietet, in einem Dorf in der Nähe, mit Schlafzimmer und einem Wohnraum mit Küchenzeile.
In der ersten Zeit kommt er freitagabends heim und fährt montags früh wieder zur Arbeit. Den Bodensee und Ludwigsburg trennen zwei Autostunden und etwa zweihundert Kilometer. Ich bin unter der Woche allein zu Hause und rund um die Uhr mit dem Baby beschäftigt.
Für mich ist das arg erschöpfend; ich habe keinerlei Hilfe, von den Freunden oder Verwandten lebt niemand in der Nähe.
Und so beschließen wir, gemeinsam an den Bodensee zu ziehen. Von der Arbeit heimgekommen, kümmert sich mein Mann gern um das Töchterchen, und ich bin froh, draußen etwas Luft zu schnappen und ein Stückchen Freiheit zu genießen.
Hingehen kann man eigentlich nirgends. Im Dorf gibt’s eine Bäckerei, einen Metzgerladen, ein kleines Lebensmittelgeschäft und eine Weinhandlung. Letztere ist etwas Besonderes. Das Dorf liegt rings umgeben von Weinbergen, die ebenso wie die Weinhandlung von Generation zu Generation weitergeführt werden und seit vierhundert Jahren ein und derselben Familie gehören.
Als ich einen Blick in den Laden werfe, entdecke ich ungewöhnliche Weine, bei regionalen Ausstellungen mit Goldmedaillen prämiert.
Die freundliche Inhaberin erklärt mir, dass man jeden dieser Weine probieren dürfe. Als ich auf eine Flasche deute, die sich aber als noch ungeöffnet erweist, zieht die Dame ohne zu zögern rasch und professionell den Korken ab und gießt mir von dem Wein in ein kleines Plastikglas.
Ich erzähle meinem Mann dieses Erlebnis.
«Da siehst du, was es heißt, auf dem Dorf zu leben!» lacht er. «Stell dir vor, was passieren würde, wenn ein Supermarkt in Moskau eine, Weinprobe» anböte? Manche würden sich am Eingang häuslich niederlassen.»
An den Wochenenden fahren wir heim in die Stadt.
Winter 2005—2006
Deutschland, ein altes kleines Haus nahe Ludwigsburg
Zurückgekehrt in das alte Häuschen in der Nähe von Ludwigsburg, in dem wir ein Jahr vor der Geburt unserer Tochter eine Wohnung gemietet haben, schalten wir als Allererstes mal sofort überall die Heizung an.
Dies alte Haus – wie im Bilderbuch sieht’s aus, pastellfarben angestrichen, mit Blumen auf dem Fenstersims und einem Vorgärtlein – ist schön bloß im Bilderbuch. In Wirklichkeit ist das eine Behausung, die man nie richtig durchgeheizt bekommt.
Das Badezimmer ist riesig, mit Heizkörper. Es hat Duschkabine und Badewanne. Doch selbst bei eingeschalteter Heizung ist es dort kalt, als ob die Wärme sofort nach draußen entwiche. Ich muss all meinen Mut zusammennehmen, um mich ganz rasch auszuziehen, worauf ich dann in die Duschkabine hüpfe und eilends das warme Wasser aufdrehe. Etwa drei Minuten lang strömt eiskaltes Wasser auf meine Füße, dann wird’s ganz allmählich warm.
In der Küche gibt es überhaupt keinen eingebauten Heizkörper. Deshalb schalte ich einen Ölradiator ein. Wenn wir Pech haben und im selben Augenblick der Kühlschrank anspringt, fliegen in der ganzen Wohnung die Sicherungen raus.
Dann müssen wir über die knarrende Holztreppe, bei der jeder Schritt das ganze Haus laut erkrachen lässt, hochstapfen zu unserem Vermieter. Er wohnt zwei Stockwerke höher, unterm Dach, und ist sozusagen der Herr über sämtliche Sicherungen im Haus.
Dieser arbeitslose Deutsche ist sehr sparsam und lebt von dem Geld, das er von uns und von den Leuten in der Nachbarwohnung als Miete bekommt.
Dass er am warmen Wasser spart, lässt sich aus der Geruchswolke vermuten, die er im Vorbeigehen auf der Treppe und im Hausflur um sich verbreitet.
Wenn ich die Wohnung misslicherweise gerade dann verlasse, nachdem Jörg soeben durchs Treppenhaus gegangen ist, halte ich so lange den Atem an, bis ich draußen auf der Straße die rettende frische Luft erreicht habe.
Das Übrige weiß ich von seiner Frau (sie kommt aus Bosnien), die sich oft beklagt, dass ihr Mann ihr als Haushaltsgeld nur einen Euro pro Tag gibt. Wie so viele Ausländerinnen verdient sie sich dazu, indem sie als Putzfrau schwarzarbeitet.
Unwillkürlich frage ich mich, wie viele solcher Ehefrauen, die putzen gehen müssen – unglückliche, abhängige, gedemütigte Ausländerinnen —, in diesem Land leben mögen?
Oftmals dringt durch zwei Stockwerke hindurch hysterisches Geschrei durchs Haus, Aufstampfen, Weinen; es hört sich an, als ginge Mobiliar zu Bruch: Unsere Nachbarn beschimpfen und prügeln sich.
Wir aber, nachdem wir für unsere praktisch nur an den Wochenenden benutzte Wohnung eine Heizkostenrechnung erhalten haben, die fast die Höhe unserer monatlichen Miete übersteigt, machen uns auf die Suche nach einer anderen Wohnung.
Schließlich übersiedeln wir nach Marbach, weltbekannt als der Geburtsort Friedrich Schillers.
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