Wieder bedrückt mich unser deutsches Unglück. Bin tieftraurig aus dem Kino gekommen und helfe mir, indem ich alles herbeirufe, was meinem Lebenstrieb das Feuer nimmt. Das Stückchen Shakespeare damals, aus meinem Pariser Notizbuch, als ich Oswald Spengler entdeckt und über seinen Untergang des Abendlandes betrübt war: »A tale told by an idiot, full of sound and fury, and signifying nothing.« Zwei verlorene Weltkriege sitzen uns verdammt tief im Gebein.
Donnerstag, 14. Juni 1945
Wieder war die Gehmaschine in Charlottenburg. Wäre es nur soweit, daß unser Betrieb stünde und ich die Arbeiterkarte II bekäme, mit 500 Gramm Brot am Tag, damit ich mir ein bißchen davon für den Abend retten kann. So muß ich die sechs Roggenbrötchen, die ich mir allmorgendlich hole, immer gleich für mein Frühstück opfern. Das heißt, zwei nehme ich noch mit auf den Weg, esse sie an den beiden Rastpunkten, die ich mir gönne, würde sonst wohl schlappmachen. Trotz »Bratens« in Kaffee-Ersatz sind die faulig schmeckenden Kartoffeln schwer herunterzubringen. Ich müßte wieder welche aussortieren, das Häuflein schmilzt bedrohlich.
Im Korridor bei dem Ingenieur standen heute Dutzende von Telefon-Apparaten. In allen Häusern werden sie jetzt eingesammelt; wie es heißt, für die Russen. Berlin ohne Strippe! Es scheint, daß wir wieder zu Höhlenmenschen werden sollen.
Abends etwas Schönes: Endlich bekam ich in unserem Eckladen die für zwei Dekaden, 20 Tage, fällige Fettration von 20 mal 7 gleich 140 Gramm Sonnenblumenöl. Andächtig trug ich das Fläschchen, das ich die ganze Woche vergeblich leer mitgeführt hatte, nach Hause. Nun duftet es in meiner Küche wie in einer Moskauer »Stolowaja«, dem Speiserestaurant einfacher Leute.
Freitag, 15. Juni 1945 Hab mir in aller Frühe meine sechs Tagesbrötchen geholt. Sie sind feucht und dunkel, früher gab es sowas nicht. Ein Brot zu kaufen, wage ich nicht mehr, würde mich vorzeitig am Quantum des nächsten Tages vergreifen.
Heute stieg der Einbruch in den Keller meines ehemaligen Brotgebers. Der Ungar, der Ingenieur und ich mogelten uns hintenherum durch die Waschküche in das Haus. Wir hatten die Kiste, die unberührt im Verschlag stand, schon aufgestemmt, als sich oben an der Kellertreppe die Frau unseres ehemaligen Prokuristen zeigte, der hier noch immer haust. Ich stotterte was von Akten und Papieren, die ich noch hier liegen hätte. Die beiden Männer machten sich hinter der Kiste ganz klein. Wir zerbrachen dann die Bilderrahmen, rissen die Bilder - Fotos mit Unterschrift von jungen Ritterkreuzträgern - heraus und stapelten die Verglasungen. Packpapier und Strippe hatten wir mitgebracht. Unbemerkt konnten wir durch den Hintereingang entwischen. Mir macht es nichts aus, wenn die Leute auf den Schaden kommen. Schließlich hab ich Kamera und Zubehör, die ich auf Wunsch des Chefs im Betrieb aufbewahrte, bei dessen Totalverbombung eingebüßt. Was sind dagegen die paar Scheiben? Wir stoben mit unserem Raub davon, so schnell wir konnten. Jeder schleppte sich mit einem schweren Scheibenstapel bis zu mir, wo die beiden Männer unsere kostbaren Firmenfahrräder untergestellt hatten. Vier Scheiben bekam ich als Provision ab, könnte ein Fenster meiner Dachwohnung damit verglasen, wenn ich Kitt hätte.
Ich las am Abend in der ziemlich willkürlich zusammen-gestoppelten Bücherei des Wohnungsinhabers herum. Fand Tolstois Polikei und las es zum xten Male. Ackerte mich durch einen Band Dramen von Aischylos und entdeckte dabei die Perserklage. Mit ihren Wehschreien der Besiegten paßte sie gut zu unserer Niederlage - und paßt doch gar nicht. Unser deutsches Unglück hat einen Beigeschmack von Ekel, Krankheit und Wahnsinn, ist mit nichts Historischem vergleichbar. Soeben kam durchs Radio wieder eine KZ-Reportage. Das Gräßlichste bei all dem ist die Ordnung und Sparsamkeit: Millionen Menschen als Dünger, Matratzenfüllung, Schmierseife, Filzmatte - dergleichen kannte Aischylos doch nicht.
Von Samstag, 16. Juni, bis Freitag, 22. Juni 1945
Nichts mehr notiert. Und ich werde nichts mehr aufschreiben, die Zeit ist vorbei. Es war Samstag gegen fünf Uhr nachmittags, als es draußen klingelte. »Die Witwe«, so dachte ich. Doch es war Gerd, in Zivil, braun gebrannt, das Haar heller denn je. Wir sagten beide eine ganze Zeitlang gar nichts, starrten uns in dem dämmrigen Flur an wie zwei Gespenster.
»Wo kommst du her? Bist du entlassen?« »Nee, ich bin versickert. Aber nun laß mich erst mal rein.« Er zerrte einen Hörnerschlitten hinter sich her, auf kleine Räder gestellt und mit einem Koffer und einem Sack beladen.
Ich war fiebrig vor Freude. Nein, von der Westfront kam Gerd nicht. Man hat seine Fla-Einheit noch in letzter Minute nach dem Osten geworfen. Nach einem feindlichen Volltreffer auf die eigene Stellung sind sie zu dritt seitab gegangen und haben sich in einer verlassenen Villa eingenistet, wo sie Anzüge, Schuhe, einen Ballen Tabak und genügend Eßbares fanden. Bis die Sache brenzlig wurde, als eine aus Russen und Polen gemischte Ortsbehörde die Einwohner durchkämmte. Zu dritt schlössen sich die Männer einem Trupp evakuierter Berliner an, trampten mit ihnen heimzu. Meine jetzige Adresse wußte Gerd, da er als letzte Feldpostnachricht die rotgeränderte Postkarte mit dem Bescheid über meine Ausbombung erhalten hatte. Freilich wähnte er auch die neue Unterkunft zerstört und mich werweißwo. Er ist ganz erstaunt ob meines unbeschädigten Vorhandenseins. Schüttelte den Kopf über meine Hungersnöte; behauptete, er werde nunmehr das Nötige heranschaffen. In dem Sack hat er tadellose Kartoffeln sowie einen Kanten Speck mitgebracht. Ich gab mich gleich ans Braten, lud auch die Witwe ein. Sie kennt Gerd aus meinen Erzählungen, begrüßte ihn, den sie nie zuvor gesehen, mit überschwenglicher Umarmung und brachte in ihrem Redeschwall schon bald den Daumen-und-Zeigefingertrick an: »Ukrainerfrau - so, du - so.«
Ich sah, daß Gerd befremdet war. Von Satz zu Satz gefror er mehr, markierte Müdigkeit. Wir umschlichen einander und sparten mit persönlichen Worten. Schlimm ist, daß Gerd nichts zu rauchen hat. Er hatte sich eingebildet, daß bei uns der Schwarzmarkt in alter Frische blühte.
Ich war nach dem ungewohnt fetten Essen heiß und übermütig. Fand mich trotzdem zur Nacht eiskalt in Gerds Armen wieder, war froh, als er mich ließ. Bin erst mal für den Mann verdorben.
Unregelmäßige Tage, unruhige Nächte. Allerlei Leute, die mit Gerd getreckt sind, kamen uns besuchen. Daher zwischen uns ständige Reibungen. Gerd wollte, daß die Gäste bewirtet würden. Ich wollte Kartoffeln und Speck möglichst aufsparen für uns beide. Saß ich stumm dabei, so schimpfte er. War ich aufgekratzt, gab ich Stories zum besten, wie wir sie in den letzten Wochen erlebt haben, so kam es nachher erst recht zum Streit. Gerd: »Ihr seid schamlos wie die Hündinnen geworden, ihr alle miteinander hier im Haus. Merkt ihr das denn nicht?« Er verzog angewidert sein Gesicht: »Es ist entsetzlich, mit euch umzugehen. Alle Maßstäbe sind euch abhanden gekommen.«
Was sollte ich antworten? Ich hab mich verkrochen und hab gebockt. Weinen konnte ich nicht, alles kam mir so sinnlos, so dumm vor.
Gerd, weißt du noch? Es war ein Dienstag, Ende August 1939, morgens gegen zehn, als du mich im Büro anriefst und mich batest, mir für den Rest des Tages freizunehmen, unbedingt, um einen Ausflug mit dir zu machen. Verblüfft fragte ich dich nach dem Warum und Wieso. Du hast etwas von Verreisenmüssen gemurmelt und nochmals gedrängt: »Komm, bitte komm.« So zogen wir mitten am hellichten Werktag durch märkische Kiefernwälder. Es war heiß. Man roch das Harz. Wir strolchten um einen Waldsee herum und gerieten in Wolken von Schmetterlingen. Du nanntest sie mit Namen: Bläulinge und Zitronenfalter, Feuervogel, Tagpfauenauge, Schwalben-schwanz, und noch viele bunte mehr. Mitten auf dem Weg sonnte sich mit weitgespannten, leis bebenden Flügeln ein großer Falter, den du Trauermantel nanntest - sammetbraun mit gelb und blauen Säumen. Und als wir wenig später auf einem Baumstamm rasteten und du so still mit meinen Fingern spieltest, da fragte ich dich: »Hast du deine Einberufung in der Tasche?« - »Nicht in der Tasche«, sagtest du. Aber du hattest sie am gleichen Morgen bekommen, und wir spürten, daß dies Krieg hieß. In einem abseitigen Waldgasthaus haben wir übernachtet. Drei Tage später warst du fort, und wir hatten Krieg. Wir haben ihn beide überlebt. Ob zu unserem Glück?
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