Den ganzen Tag umbuhlten uns die Burschen wieder mit ihrem stereotypen Angebot: »Speck, Eier, schlafen zu Chause.« Einer wich mir nicht von der Seite, wies mir heimlich einen deutschen Zwanzigmarkschein, legte einen zweiten Zwanziger dazu, wenn ich mal eben schnell mit ihm dort drin in der Baracke... Das gleiche hat er vorher schon der kleinen Gerti geboten.
Heute wusch eine Russin an unserer Seite, die Frau oder Freundin eines Hauptmanns, eine hochbusige Blonde. Sie wusch kunstseidene Männerhemden und sang dazu auf Lalala einen deutschen Schlager, den sie wohl von einer Grammo-phonplatte hat. Gerti und meine andere Mitwäscherin, beide tonreine Sängerinnen, stimmten ein. Die Russin lächelte uns zu. Es wehte eine freundliche Luft.
Draußen schönstes Trockenwetterchen, Sonne und Wind. Die meisten Russen pennten irgendwo im Gelände. Niemand kam, uns zu kneifen und zu knutschen. Wir wuschen bloß so vor uns hin. Irgendwie gerieten wir auf Gedichte. Es zeigte sich, daß die kleine Gerti ihr halbes Schullesebuch auswendig weiß. Ich tat mit; und eine Weile tönte es über die Waschbütte von Mörike, Eichendorff, Lenau und Goethe. Gerti, mit gesenkten Wimpern: »Warte nur, balde - ruhest du auch.« Und, seufzend: »Wär's nur erst soweit.« Die andere Wäscherin schüttelte sich. Sie ist fast zweieinhalbmal so alt wie die kleine Gerti, hat aber nichts mit dem Sterben im Sinn. Ihre ständige Rede ist: »Es geht alles vorüber.«
Müde kam ich gegen 20 Uhr heim. Da stellte es sich heraus, daß »heim« nicht mehr stimmt. Unsere Zufallsfamilie ist geplatzt. Herr Pauli hat der Witwe angesichts des beinah geleerten Kartoffelkorbes den längst fälligen Krach gemacht und gefordert, daß man mich nicht länger hier mitessen und mitwohnen lassen solle. Tja, meine Aktien stehen niedrig, seit Nikolai sich in Luft aufgelöst hat und weit und breit keine neue »Anschlafe« in Sicht ist. Die Witwe würgte und druckste herum, als sie mich im Korridor abfing, um mir die Hiobsbotschaft zu versetzen. Einerseits mag sie mich. Die schlimmen Tage haben uns verbunden. Andererseits kennt sie Herrn Pauli länger als mich, fühlt sich ihm zugehörig, erhofft von ihm für die Zukunft eine gewisse Sicherstellung. Sie mag ihn nicht vergrämen.
Ich: »Gott sei Dank, daß ich weiß, woran ich bin. Mir hat schon seit langem kein Bissen mehr geschmeckt hier. Ich war froh, daß ich die letzte Woche mein Essen bei den Russen hatte.«
Freilich weiß ich noch nicht, wovon ich die nächste Woche leben soll, wenn die Arbeit beim Russen zu Ende geht und ich allein oben in der Dachwohnung vor leeren Schränken sitze, angewiesen auf das bißchen Zuteilung, das wir kriegen sollen, aber immer noch nicht gekriegt haben. Ich packte mein Krämchen, meine paar Löffel und Lumpen, zockelte damit treppauf; schlafe aber noch ein letztes Mal in der Wohnung der Witwe, wo ich jetzt dies schreibe. Waisenkind muß wandern. Das Bitterste im Leben einer alleinstehenden Frau ist, daß sie immer wieder, sooft sie in eine Art von Familienleben gerät, nach einer Weile stört, zuviel ist, dem einen mißfällt, weil sie dem anderen gefällt, und am Ende um des lieben Friedens willen ausgestoßen wird. Nun doch Tränenschmiere auf dieser Schreibseite.
Der letzte Waschtag. Ab morgen sind wir frei, wir alle. Die Russen schnürten ihre Bündel, überall war Aufbruch-stimmung. Drinnen unterm Waschkessel hatten sie eigenhändig Feuer gemacht; ein Offizier wollte baden. Die Mannschaften schrubbten sich im Freien, in Schüsseln, die sie auf Stühle gestellt hatten; mit nassen Handtüchern rubbelten sie sich die breiten Brustkästen blank. Heute habe ich eine Eroberung gemacht: Mit Gesten und Deutschbrocken gaben mir unsere jungen Knutscher zu verstehen, daß »der da« sich in mich verliebt habe und bereit sei, alles für mich zu tun, wenn ich... »Der da« erwies sich als ein großer, breiter Soldat; ein Bauerngesicht mit treuherzigen Blauaugen, schon graue Schläfen. Er schaute verschämt weg, als ich zu ihm hinblickte, näherte sich dann schrittchenweise, nahm mir den schweren Wassereimer ab und trug ihn für mich zur Waschbütte. Ein ganz neues Muster! Auf den tollen Einfall ist bisher keiner gekommen. Dann, noch größere Überraschung, sagte er auf deutsch, ganz ohne russischen Akzent: »Morgen geht es fort, weit fort von hier.« »Hier« sagt er, nicht »chier«. Ich war gleich im Bilde. Ein Volksdeutscher. Er bestätigte das, ja, er ist an der Wolga daheim, Deutsch ist seine - leicht eingerostete - Muttersprache. Den ganzen Tag war er um mich herum, bevaterte mich mit freundlichen Äuglein. Den Knutschdreh hat er nicht, ist eher schüchtern, ein Bauer. Bloß immerzu der hundetreue Blick, in den er alles mögliche hineinzulegen versuchte. Solange er in meiner Nähe war, ließ das Gekneife und Geschiebe der Männer um unsere Waschbütte herum nach.
Wir plagten uns wieder redlich zu dritt. Die kleine Gerti war heute äußerst vergnügt, sang und trällerte in einem fort. Sie ist so froh, weil sie seit heute weiß, daß es kein kleiner Rußki geworden ist, damals auf dem Sofa. Wobei ich mir überlege, daß ich jetzt eine Woche überfällig bin. Trotzdem hab ich keinerlei Vorgefühle, glaube immer noch, daß ich durch mein innerliches »Nein« mich dagegen habe zusperren können. Die glückliche Gerti hatte arge Schmerzen. Wir suchten sie ein bißchen zu schonen, wuschen ihr die Sachen weg. Der Tag war grau und schwül, die Stunden schlichen. Gegen Abend kamen die Russen einer nach dem anderen daher und holten sich die mittlerweile getrockneten Sachen. Einer drückte ein zierliches Damentaschentuch mit Häkelsaum ans Herz und sprach, die Augen schwärmerisch verdreht, bloß ein Wort: den Ortsnamen »Landsberg«. Auch so ein Romeo, wie mir deucht. Vielleicht wird auch Petka in seinen sibirischen Wäldern der-einst seine Holzfällerpratze aufs Herz drücken und mit ähnlich verdrehten Augen meinen Namen murmeln - falls er mich nicht noch nachträglich holzhackend verflucht.
Im Abreisegetümmel brachte uns der Koch heute kein Truppenessen. Wir mußten die Graupensuppe in der Kantine mitschlappern. Dort ging die Parole um, daß der uns vorige Woche zugesagte Lohn von acht Mark pro Tag niemals ausgezahlt werde, daß alles Geld von den Russen eingesteckt worden sei. Dazu eine zweite, noch wildere Parole: Im Radio sei gesagt worden, daß ein Mongolensturm sich über Berlin ergießen werde, daß selbst Stalin diese Horden nicht bändigen könne und ihnen drei Tage Plünder- und Schändefreiheit habe gewähren müssen und allen Frauen anrate, sich in den Häusern zu verstecken... Der blanke Irrsinn, zweifellos. Aber die Frauen glauben's und schnattern und jammern durch-einander, bis unsere Dolmetscherin dazwischenfährt. Ein starkes Frauenzimmer, Dragonertyp. Sie duzt uns alle und tutet mit unseren Antreibern ins selbe Horn, obwohl sie keinen Auftrag dazu hat, sondern als Arbeiterin hergetrieben worden ist wie wir alle, bis sie dank ihrer paar Brocken Russisch (sie stammt aus dem polnischen Oberschlesien) zur Dolmetscherin aufgestiegen war. Was die sprachlich kann, kann ich lange. Ich bin aber heilfroh, daß ich nicht damit herausrückte. Ich hätte äußerst ungern Befehle und Treiberrufe übersetzt. Wir fürchten uns alle vor dieser Dolmetscherin. Sie hat spitze Eckzähne und einen grellen, boshaften Blick. So stelle ich mir Aufseherinnen im KZ vor. Am Abend in der Kantine wurde uns die Entlassung kund-getan. Nach unserem Sold, so hieß es, sollten wir nächste Woche im Rathaus fragen, Zimmer soundso, Kasse. Vielleicht gibt es dort wirklich Lohn, vielleicht auch nicht. Wir müssen es abwarten. Ich habe der kleinen Gerti und meiner anderen Mitwäscherin die Hand gedrückt - vorsichtig, denn wir haben alle drei aufgewaschene Hände - und ihnen alles Gute auf den Weg gewünscht. Gerti will nach Schlesien zurück, wo ihre Eltern leben. Oder lebten. Man weiß ja nichts.
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