Bangen Herzens sahen die Verteidiger, wie die schmale Brücke mit jedem Tag länger wurde, sie konnten aber nichts dagegen tun, denn zwischen der Stadtmauer und dem Kanal lag der breite Park, in dem sich ihre Pfeile verfingen.
So verging ein Monat. Die Brücke zog sich jetzt von einem Ufer des Kanals zum anderen. Der erste Zug der Marranen passierte sie im Gänsemarsch, ihm folgten andere. Mit Schleudern bewaffnete Soldaten trugen lange Bretter und zersägte Baumstämme. Bald füllten sie den ganzen Park. Unter dem Schutz der Bäume stießen sie bis zur Stadtmauer vor, doch hier prasselte ein Hagel von Pfeilen auf sie nieder, der viele Soldaten verwundete. Die Getroffenen krochen stöhnend zurück. Da ließ Urfin die Trompeter zum Rückzug blasen. Die Soldaten verschanzten sich in Stellungen, in denen die Pfeile sie nicht erreichen konnten.
Urfin schickte mehrere Hundert Marranen nach Ruten in den Wald, aus denen die Soldaten Schilde zu flechten begannen. Am Abend befiel sie wie gewöhnlich der Schlaf, worüber der Feldherr sehr besorgt war, da die Belagerung daran scheitern konnte. Da rief er den Bären, und während die Armee schlief, machten sich beide an die Arbeit…
Aber auch Din Gior und Faramant schliefen nicht in dieser Nacht. Sie hatten sich einen kühnen Plan ausgedacht. Als es finster wurde, schlichen sie sich geräuschlos aus der Stadt. Mit Stroh und brennenden Fackeln in den Händen liefen die beiden zur Brücke, um sie anzuzünden. Am Ufer blieben sie jedoch wie angewurzelt stehen, denn was sich ihnen darbot, war nicht das Brückenende, sondern der Widerschein der Fackeln im dunklen Wasser. Urfin und der Bär hatten nämlich das Ende der Brücke abgetragen!
Am Morgen stießen die Angreifer unter dem Schutz ihrer Schilde bis zur Mauer vor.
Es begann ein erbitterter Kampf. Urfins Schleuderer schickten einen Hagel von Steinen gegen die Mauer, und die Verteidiger mußten hinter den Zinnen Deckung suchen. Von dort aus schossen sie ihre Pfeile ab und warfen Steine und brennendes Stroh auf die Köpfe der Angreifer.
Durch die Schilde gedeckt, wälzten die Marranen Klötze heran, auf die sie lange Bretter legten. Der Scheuch und sein Stab beobachteten dieses Treiben, das sie nicht verstehen konnten.
Als entlang der Wand etwa 100 Bretter auf Klötzen lagen, ertönte ein Trompetensignal, worauf mit Keulen bewaffnete Soldaten sich auf je ein Brettende stellten, wodurch das andere, freie Brettende sich anhob. Bei diesem Anblick wurde Feldmarschall Din Gior leichenblaß.
»Wir sind verloren… Das sind Schleudervorrichtungen!« murmelte er. »Ich habe davon in alten Chroniken gelesen. Aber wie ist bloß Urfin daraufgekommen?«
Die Marranen waren sehr behende. Auf jedes freie Brettende sprangen auf einmal zwei oder drei Soldaten, wodurch das entgegengesetzte Ende hochschnellte und die darauf stehenden Männer emporschleuderte.
Mehrere Dutzend Marranen erreichten das Ziel. Sie klammerten sich an den Mauersims, zogen sich hoch und fielen über die Verteidiger her.
Unter den Bürgern brach eine Panik aus. Viele sprangen von der Mauer und eilten auf ihre Häuser zu, in denen sie Schutz zu finden hofften. Faramant und Din Gior kämpften wie Löwen. Selbst der Scheuch versuchte, mit seinen weichen Stroharmen einen großen Stein aufzuheben, den er den Angreifern entgegenschleudern wollte.
Die Übermacht war aber zu groß. Im Nu hatte man den Oberkommandierenden und seinen Stab gefesselt. Der Scheuch wurde wieder Urfins Gefangener.
Der Eroberer bot ihm auf der Stelle das Amt eines Statthalters an. Wie der Holzfäller, schlug aber auch der Strohmann das Angebot aus.
»Man führe diesen Dickschädel und seinen eisernen Freund in den Turm, wo sie schon einmal lagen!« befahl Urfin.
»Sperrt sie aber nicht in das obere Gelaß, sondern in den nassen Keller! Wollen mal sehen, wie lange sie es dort aushalten werden!«
Trotz des Unglücks, das über ihn hereingebrochen war, freute sich der Scheuch über das Wiedersehen mit seinem Freund.
Der Holzfäller begrüßte ihn nur mit einem Kopfnicken, denn er konnte vor Schwäche kein Wort hervorbringen.
Der Scheuch watschelte hinter dem Holzfäller her und dachte voller Gram an den Herrlichen Kasten: ›Wenn Urfin das Geheimnis des Kastens errät, wird er noch mächtiger sein als bisher‹, sagte er sich. Da fiel ihm jedoch ein, daß außer ihm niemand die magischen Worte kannte. ›Ohne diese Worte ist der Kasten aber nur ein Möbelstück. Mir wird Urfin die Beschwörung bestimmt nicht entlocken‹, entschied der Strohmann.
Man brachte die Gefangenen in den Keller, in dem der Scheuch einst an einem Haken aufgehängt worden war, weil er gegen Urfin gemeutert hatte. Der Haken stak noch in der Wand, nur daß er jetzt verrostet war.

»Von hier bin ich schon einmal ausgebrochen, das wird mir wohl auch ein zweites Mal gelingen!« rief der Scheuch munter.
Der Eiserne Holzfäller schüttelte nur den Kopf.
Nach der Eroberung des Smaragdenlandes beschloß Urfin, die Holzköpfe wieder in seine Dienste zu nehmen. Da sie unverwundbar waren und niemals müde wurden, konnten sie ihm gewaltigen Nutzen bringen. Kaggi-Karr machte dem Eroberer jedoch einen Strich durch die Rechnung. Kaum war die Stadt gefallen, rief sie die Holzköpfe zu einer Versammlung in einer Lichtung des Waldes. Da eine Tribüne nicht vorhanden war, setzte sich die Krähe auf den Kopf eines hochaufgeschossenen Holzkopfs und hub an:
»Hölzerne Leute! Hört, was ich euch zu sagen habe! Ich eröffne euch, daß ich, Kaggi-Karr, anstelle unseres guten Herrschers, des Weisen Scheuchs, die Regierung im Smaragdenland übernommen habe! Wollt ihr schwören, daß ihr mir als eurer rechtmäßigen Gebieterin gehorchen werdet?«
»Wir schwören!« riefen die Holzköpfe.
»Schön. Und jetzt paßt mal auf: Als man eure grimmigen Fratzen in freundlich lächelnde Gesichter verwandelte, veränderte sich euer Charakter. Ihr konntet den Menschen nichts Böses mehr antun, und jedermann achtete euch als wackere und fleißige Arbeiter. Jetzt will der grausame Urfin Juice euch wieder mit seinem Meißel bearbeiten und erneut in Scheusale und Bösewichter verwandeln. Wollt ihr das?«
»Nein, nein! Wir wollen gut sein!«
»Dann müßt ihr in den Tigerwald fliehen und dort in tiefen Schluchten abwarten, bis Urfins Macht zu Ende ist. Ich, die Gebieterin des Landes, verspreche euch, daß ihr nicht lange werdet warten müssen.«
Grinsend stapften die Holzköpfe dem Tigerwald zu.
Urfins Hoffnungen brachen zusammen. Nur unter den ehemaligen Polizisten fanden sich etliche, denen es einerlei war, wem sie gehorchten, und die in Urfins Dienste traten.
DIE NÜSSE DES NUCH-NUCH-BAUMS
Als die Stadt gefallen war, strömten die Springer in die Häuser und Geschäfte und in den Palast. Alles rief bei ihnen Staunen und Begeisterung hervor. Lachend rissen die Soldaten den Bürgern die grünen Brillen von den Nasen und setzten sie sich auf. Wie staunten sie aber erst, als plötzlich alles ringsum grün wurde!
Über die Smaragde zwischen den Pflastersteinen und in den Dächern und Wänden der Häuser wunderten sie sich nicht, denn Smaragde gab es ja auch in den Bergen ihrer Heimat. Dafür aber starrten sie mit offenen Mäulern die Häuser an, deren Dächer sich oben fast berührten, und die prächtigen Zimmer mit den weichen Teppichen und schönen Möbeln. Beim Anblick dieser Herrlichkeiten gingen den Strohhüttenbewohnern die Augen über.
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