Ann entgegnete:
»Ich weiß, aber ich dachte, der Eingang zur Höhle sei mittlerweile freigelegt worden.«
»Wozu sollte man ihn freilegen?« fragte der Student.
»Das ist doch leicht zu verstehen«, erwiderte das Mädchen. »Damit ein jeder in das Zauberland reisen kann!«
Fred bog sich vor Lachen.
»Du meine Güte! Du willst vielleicht, daß man hier ein Reisebüro eröffnet und Touristen haufenweise in das Zauberland strömen?«
»Ist denn das so schlimm?« fragte Tim O’Kelli.
»Gewiß«, sagte der Student ernst. »Das Zauberland ist gerade deshalb so reizend, weil es von der übrigen Welt völlig abgeschieden ist. Nur deshalb leben dort gute Zauberinnen wie Willina und Stella, sprechen die Tiere und herrscht ewiger Sommer in diesem Land. Stellt euch einmal vor, aus den Staaten kämen lärmende, freche Gentlemen und Ladies her. Das würde doch das Ende der braven Zwinkerer und Käuer bedeuten! Hier war schon einmal so ein unternehmungslustiger Geschäftsmann, der mir viele Dollar anbot, damit ich ihm den Zugang zur Höhle zeige. Ich nahm natürlich das Geld nicht an und zeigte ihm eine falsche Stelle. Zwei Wochen lang ließ er dort ein Dutzend Arbeiter graben und zog dann unverrichteterdinge fort.«
»Du meinst, wir sollen nicht mehr davon träumen, dieses Land jemals zu sehen«, sagte Ann, und Tränen traten ihr in die Augen.
»Du bist natürlich eine Ausnahme«, tröstete sie Fred. »Du bist Ellis Schwester, und Elli achtet man im Zauberland als eine mächtige Fee, die viel Gutes getan hat. Ich glaube, der Scheuch und seine Freunde würden sich sehr freuen, wenn du, Ann, und dein Freund Tim über die Große Wüste und die Weltumspannenden Berge hinweg in ihr schönes Land kämet.«
»Aber wie schaffen wir das bloß?« seufzte Ann.
»Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg«, sagte Fred. »Wenn ihr angestrengt nachdenkt, werdet ihr schon ein Mittel finden, wie ihr in das Land eurer Träume kommen könnt. Auch ich will nachdenken, vielleicht fällt mir etwas ein.«
Das Gespräch mit Fred gab den Kindern Hoffnung, und sie kehrten beruhigt nach Kansas zurück.
Die Ferien näherten sich ihrem Ende, als eines Tages die Postkutsche mit zwei großen Kisten auf dem Dach vor der Farm John Smiths hielt. Der Postillon und der Kutscher hoben mit großer Mühe die Kisten vom Dach und trugen sie in das Haus. Auf den Kisten stand in großen Buchstaben die Adresse John Smiths und die des Absenders: Alfred Cunning aus dem Städtchen New-Ville, Staat Iowa. »Von unserem Neffen Fred«, sagte Frau Anna. »Er schickt uns wahrscheinlich Obst. Aber warum sind die Kisten so groß?«
»Mutti, es rührt sich etwas drin«, sagte Ann, die das Ohr an eine Kiste gelegt hatte.
»Unsinn!« sagte die Farmerin.
Nichtsdestoweniger beschloß sie, mit dem Öffnen der Kisten zu warten, bis ihr Mann vom Feld gekommen war.
Ann, Tim und die Nachbarkinder, die von der ungewöhnlichen Postsendung erfahren hatten, warteten ungeduldig auf die Heimkehr des Farmers. Alle sagten, in den Kisten scharre und klopfe es. Sie hielten es vor Neugier fast nicht mehr aus, da kam endlich der Farmer. Mit Meißel und Zange begann er eine Kiste zu öffnen. Kaum hatte er den Deckel angehoben, da drang aus ihr ein lautes Wiehern. John wich zurück und Frau Anna bekreuzigte sich, während die umstehenden Jungen und Mädchen vor Freude jauchzten.
»Ein Pferdchen!« rief der dreijährige Bob.
»Unmöglich«, brummte Farmer John. »Welches Pferd könnte es drei Tage in diesem Sarg ohne Luft und Futter aushalten?«
Wie staunte er aber, als aus der Kiste ein kleines, braunes Maultier kletterte, mit einem Huf stampfte und zu wiehern begann.
»Bei allen Heiligen!« rief der verdutzte Farmer und ergriff das Maultier am Halfter, damit es nicht davonlaufe. »Man könnte meinen, daß das Tier aus dem Zauberland kommt, wäre nicht Fred Cunning der Absender.«
Des Vaters Worte machten auf Ann einen starken Eindruck. Sie ahnte, daß dieses Maultier das Mittel sei, mit dem sie ins Zauberland gelangen würde.
Umsonst suchte Farmer John in der Holzwolle nach einem Brief von Fred. Statt dessen fand er einen schönen Sattel mit weichem Sitz und versilberten Steigbügeln. Ein Brief lag in der anderen Kiste, in der sich gleichfalls ein Maultier, allerdings ein graues, befand, das nur wenig kleiner war als das erste. Auch ein zweiter Sattel lag bei.
Im Brief Alfred Cunnings stand:
»Meine liebe Cousine Ann! Dein Wunsch, das Zauberland zu sehen, ist so groß, daß ich mir den Kopf zerbrach, um dir zu helfen. Ich habe den ganzen Sommer an diesen zwei mechanischen Maultieren gearbeitet, die ich dir und deinem Freund Tim O’Kelli übersende.«
John mußte das Lesen unterbrechen, weil Tim einen Jauchzer ausstieß und einen Purzelbaum schlug, wie ihn gewiß kein zweiter Junge hätte machen können. Als Tim sich wieder beruhigte, fuhr der Farmer zu lesen fort:
»Diese Maultiere brauchen weder Futter noch Wasser. Energie erhalten sie von den Sonnenbatterien, die ich ihnen eingebaut habe… In der großen Wüste gibt es reichlich Sonne, und ihr werdet nicht zu befürchten brauchen, daß die Tiere aus Futtermangel schwach werden.«

Weiter enthielt der Brief Anweisungen, wie die Tiere zu steuern seien. In der Mähne jedes Tiers sei ein verstellbarer Stift verborgen. Schiebe man ihn rückwärts, stünden die Tiere still, bringe man ihn in Mittelstellung, bewegten sie sich im Trab, und schiebe man den Stift bis zum Anschlag vor, gingen sie in Galopp über. Zum Wenden nach rechts oder links brauche man nur das Halfter in die gewünschte Richtung zu ziehen.
Es genüge, hieß es weiter im Brief, die Maultiere zwei bis drei Stunden täglich in der Sonne zu halten. Bei heiterem Wetter lüden sich die Batterien von selbst auf. Der Erfinder teilte ferner mit, er schicke die Tiere unaufgeladen, damit unterwegs nichts passieren könne.
»Warum haben sie aber gewiehert und sind von selbst aus den Kisten gestiegen?« fragte Tim O’Kelli, der sich für sein Alter erstaunlich gut in Mechanik auskannte.
Farmer John erwiderte nach kurzem Nachdenken:
»Wahrscheinlich hat die Sonne die Kisten während der Reise so erwärmt, daß die Batterien sich aufgeladen haben. Aber hol mich der Teufel, wenn das nicht eine ganz ungewöhnliche Erfindung ist! Auf diese Maultiere kann man sich allem Anschein nach verlassen!«
»Und folglich könnt ihr mich und Tim unbesorgt in das Zauberland ziehen lassen!« fügte Ann munter hinzu.
»Das ist noch lange nicht entschieden«, entgegnete der Vater mit gespielter Strenge.
Am Ende des Briefes stand ein wichtiger Hinweis für Ann und Tim. Sie sollten, schrieb Fred, auf der Reise niemandem das Geheimnis der Wundertiere verraten. Sollten die Leute sie für einfache Maultiere halten, von denen sie sich dem Aussehen nach auch nicht unterscheiden. Das verringere die Gefahr, daß irgend jemand sie ihnen raube.
»Fred scheint überzeugt zu sein, daß Tim und Ann schon heute oder morgen aufbrechen«, brummte der Farmer. »Er hat wohl vergessen, daß bald das Schuljahr beginnt.«
Unerwartet setzte sich Frau Anna für die Kinder ein »Elli ist doch viel länger als ein Jahr der Schule ferngeblieben«, sagte sie, »dabei hätten sich viele Kinder, was das Lernen angeht, ein Beispiel an ihr nehmen können! Was sie gesehen und erlebt hat, wiegt gewiß viele Schuljahre auf…«

»Hast du denn keine Angst, Ann und Tim ins Zauberland ziehen zu lassen?« fragte John erstaunt.
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