Doch dann fegte sie diesen düsteren Gedanken weg und stürzte in die Zimmerecke, wo sich unter einer der fest verfugten Bodenplatten ihr Geheimfach befand. Sie drückte auf einen Knopf, von dem sie annahm, daß er nur ihr bekannt war. Die Platte, von einer Feder bewegt, glitt zur Seite und gab den Blick auf eine Vertiefung frei.
Dort allerdings blühte ihr eine neue Überraschung. Auf einem Seidenkissen lag – nicht etwa das erwartete Buch, sondern lediglich ein kleiner Zettel, ein lumpiges Stück Papier, das die Taureker ihrer Herrin Karena als Botschaft zugedacht hatten.
»Verdammt!« heulte die Hexe auf und stampfte in ohnmächtiger Wut mit den Füßen. »Sie haben mein Buch gestohlen! Diebe! Räuber! Banditen!«
In ihrem Zorn zerknüllte sie den Zettel, wollte ihn zum Fenster hinauswerfen. Doch es war zu, und so blieb das Papier auf dem Fensterbrett liegen.
Karena ließ sich schwer auf den Vorleger plumpsen. Der Teppich jedoch fing sie federnd ab und legte sie behutsam aufs Bett. Da krallte sie sich mit aller Kraft an ihm fest, als könnte auch er plötzlich verschwinden.
»Ein Glück, daß diese hinterhältigen Zwerge nur das Buch und nicht auch noch dich gestohlen haben«, sagte die Riesin und sprach zum erstenmal in einem freundlichen Ton mit ihrem treuen Teppich.
Allmählich kam sie zur Ruhe.
»Na schön«, sagte sie nach einer Weile, »wenn die Zwerge den Krieg wollen, sollen sie ihn haben. Ich bin auch ohne das Buch stark genug, mit diesen Wichten fertig zu werden. Schließlich besitze ich noch eine Geheimwaffe. Es wird Zeit, daß ich sie ausprobiere.«
Sie zog sich mit einiger Mühe an, stärkte sich recht und schlecht mit den Essensresten, die sie noch vom Vorabend an ihrem Bett fand. Sie nahm aus dem Krug zum Händewaschen einen Schluck kaltes Wasser und machte sich daran, einen Schlachtplan zu entwerfen.
KARENAS RACHE
Im Krieg ist es immer günstig, die Pläne des Gegners zu kennen. Karena erinnerte sich, die Botschaft der Zwerge weggeworfen zu haben, deshalb ging sie zum Fenster, um nach dem Zettel zu suchen. Sie entdeckte das zusammengeknüllte Papier, entfaltete es und las:
HOCHVEREHRTE HERRIN!
Noch nie in der Geschichte der Taureker haben wir aufbegehrt, doch heute wenden wir uns mit einer dringlichen Bitte an Euch. Was wir wünschen, ist nichts weiter, als daß Ihr uns so behandelt, wie es ehrliche und fleißige Leute verdienen. Es steht Euch nicht zu, uns wegen jedes noch so kleinen Vergehens oder einfach nach Eurem Belieben in die Staubschlucht zu werfen. Wir sind zwar klein von Wuchs, aber dennoch lebendige Menschen, die Gerechtigkeit verlangen! Dies ist unsere erste und letzte Bitte. Solltet Ihr dem Wunsch nicht nachkommen, werden die Mühlräder fortan stillstehen.
Wir hoffen, daß Ihr uns diese Güte gewährt, und schwören zum Dank dafür, Euch und Euren Nachfahren bis ins siebente Glied zu dienen! Doch erwarten auch wir, daß Ihr schwört, für immer Wort zu halten. Und zwar mit dem Großen Riesenschwur.
Voller Achtung verbleiben
Kastao, Ältester der Tau
Antreno, Ältester der Reker
Arkado, Schloßjäger.
»Das wäre ja noch schöner!« rief die Riesin, nachdem sie die über alle Maßen ehrerbietige Botschaft zur Kenntnis genommen hatte. »Ihr wißt ja gar nicht, was ihr von mir verlangt. Wie kann ich mir denn gewiß sein, daß ihr die Mühlräder dreht, wenn ich euch nicht bestrafe! Die aber müssen sich bewegen, sonst hat meine Herrschaft keinen Bestand.«
Gleich darauf begann sie giftig und höhnisch zu lachen. Den Großen Riesenschwur verlangen diese eingebildeten Taureker! Na ja, immerhin hab ich es geschafft, sie so zu zähmen, daß sie vor mir zittern. Sie haben es nicht einmal gewagt, mir ihr Anliegen persönlich vorzutragen. Sie wissen, wie schrecklich ich in meinem Zorn bin und daß ich sie auf der Stelle zu Staub zermahlen hätte.
Karena nahm erneut auf ihrem Teppich Platz und befahl ihm, sie noch einmal zur Steinmühle zu bringen.
Unterdessen hatten sich Kastao, Antreno und Arkado in aller Frühe in der Steinmühlensiedlung zusammengefunden, von wo aus sie das Schloß beobachteten. Sie sahen den Fliegenden Teppich vorbeisausen, auf dem drohend die Hexe stand: im Nachthemd, mit wirren, vom Wind gezausten Haaren und einer schauerlichen Grimasse, die nichts Gutes verhieß.
Kurze Zeit später bemerkten sie den Teppich abermals über ihrer Siedlung, nur daß Karena inzwischen recht und schlecht angezogen und halbwegs gekämmt war.

»Was sie wohl vorhat?« murmelte Kastao, der um die Sicherheit seines Dorfes fürchtete.
Der Teppich ging neben der Steinmühle nieder. Eine Zeitlang war von dort kein einziger Laut zu hören. Auch von der Riesin selbst konnten sie nichts entdecken.
Plötzlich jedoch war die Luft vom Gedröhn, vom Kreischen und Quietschen der Mahlsteine und Mühlräder erfüllt. Was hatte das zu bedeuten?
»Sieht aus, als wollte uns Karena die Arbeit abnehmen«, sagte Kastao spöttisch. Dann wurde er aber wieder ernst und fuhr, an Arkado gewandt, fort: »Wir sollten herauszufinden versuchen, was diese Hexe im Schilde führt.«
Arkado ließ sich nicht lange bitten, sondern brach umgehend zur Steinmühle auf. Als Jäger verstand er es ausgezeichnet, sich lautlos zu bewegen.
Eine Stunde später tauchte er wie ein Gespenst hinter Kastao und Antreno auf. Er berichtete, daß Karena in der Tat wie besessen und ganz allein große Steinbrocken zu Staub zermahlen, diesen in Säcke füllen und damit den Fliegenden Teppich beladen würde. Die Arbeit ginge ihr so flott von der Hand, als hätte sie ihr Lebtag nichts anderes getan.
Antreno, der Stammesälteste der Reker, überlegte.
»Ich weiß zwar nicht, was sie vorhat«, ließ er sich nach einer Weile vernehmen, »doch eins ist wohl klar: die Sache schlägt uns nicht zum Guten aus. Ich fürchte, uns Zwergen droht Gefahr.«
Karena schuftete den ganzen Tag. Höchstens daß sie einmal auf ihre mißratene Tochter schimpfte, die sich, statt ihr zu helfen, irgendwo in der Ferne herumtrieb. Viele Male flog der Teppich über die Siedlung hinweg in Richtung Schloß, und er war so schwer beladen, daß er fast an den Dächern der Häuser hängenblieb.
Allmählich wurden die Taureker von ernster Sorge ergriffen. Sie konnten sich einfach nicht erklären, wofür Karena diese Unmengen gelben Staubs benötigte.
Die Hexe selbst aber, erschöpft von der schweren, ungewohnten Arbeit, kehrte erst spät in der Nacht nach Hause zurück. Dort ließ sie sich, angezogen und schmutzig wie sie war, ins Bett fallen. Sie sank in einen unruhigen Schlaf, wälzte sich von einer Seite auf die andere und hustete heftig von all dem Staub, der sich in ihrer Kehle festgesetzt hatte.
Kaum daß es dämmerte, erhob sie sich schon wieder, und wie sie so dastand, erinnerte sie an eines der gelben Ungeheuer, die morgens aus der Staubschlucht heraufkrochen.
Dann setzte sie sich erneut auf den Fliegenden Teppich und steuerte den See an. Zusammen mit ihrem Gefährt ließ sie sich ins Wasser plumpsen. Das kalte Naß erfrischte die Riesin und verlieh ihr neue Kräfte. Sie planschte im See herum, bis sie blau anlief. Als sie schließlich gewaschen war und auch den Teppich vom dicksten Staub befreit hatte, rief sie, bibbernd vor Kälte, doch triumphierend:
»Ihr seid wirklich nicht zu beneiden, meine Täubchen!«
Vor Freude über ihren hinterhältigen Plan, mit dem sie sich an den Zwergen rächen wollte, brach sie in ein lautes Hohngelächter aus.
Der Teppich schüttelte sich wie ein zottiger Hund, der aus dem Wasser kommt, und brachte seine Herrin in Windeseile zurück zum Schloß. Hier zog sich Karena trockene Kleider an, dann schritt sie zur entscheidenden Tat.
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