Woher hatte sie diese Fähigkeit? Sie wußte es nicht.
Sie hatte in der Schule nie geglänzt, hatte in den meisten Fächern selten über dem unteren Durchschnitt gelegen. Selbst in Mathematik begriff sie im Grunde das Wesentliche nicht; sie konnte nur blitzartig rechnen und Zahlen im Kopfe speichern.
Endlich erschien der Bus mit Dieselgestank und stotterndem Motorengeräusch. Zusammen mit den anderen Wartenden kletterte sie hinein. Sitze waren nicht mehr frei, selbst die Stehenden fanden kaum Platz. Es gelang ihr, sich irgendwo festzuhalten, und während der Bus durch die Straßen der Stadt schwankte, zermarterte sie weiter ihr Gehirn.
Was würde morgen passieren? Miles hatte gesagt, daß Männer vom FBI kommen würden. Die Vorstellung ließ neue Furcht in ihr aufsteigen, und ihr Gesicht verkrampfte sich bei dem Gedanken an ihre aussichtslose Situation - es war der gleiche Ausdruck, den Edwina D'Orsey und Nolan Wainwright für Feindseligkeit gehalten hatten.
Am besten war es, so wenig wie möglich zu sagen, genau wie an diesem Tag. Es glaubte ihr ja doch niemand.
Was nun den Apparat betraf, den Lügendetektor, da würde sie sich weigern. Sie hatte keine Ahnung, wie so ein Ding funktionierte, aber wenn kein Mensch sie verstehen, ihr glauben oder ihr helfen wollte, warum sollte dann ein Apparat - der noch dazu der Bank gehörte - sich anders verhalten?
Sie mußte drei Häuserblocks weit marschieren von der Bushaltestelle bis zu dem Kindergarten, wo sie Estela morgens auf dem Weg zur Arbeit abzuliefern pflegte. Juanita ging, so schnell sie konnte, denn es war später als gewöhnlich.
Das kleine Mädchen lief ihr entgegen, als sie das enge Vorschul-Spielzimmer im Souterrain des Privathauses betrat. Das Haus war, wie alle anderen in dieser Gegend, alt und heruntergekommen, aber die Klassenzimmer waren sauber und fröhlich - und aus diesem Grunde hatte Juanita gerade diesem privaten Kindergarten den Vorzug gegeben, obwohl hier das Schulgeld höher war und ihren Etat stark belastete.
Estela war aufgeregt, voll Lebensfreude wie immer.
»Mammi! Mammi! Guck mal, mein Bild. Das ist eine PuffPuff.« Sie zeigte mit einem farbverschmierten Finger. »Da ist die Bemse. Das ist ein Mann.«
Sie war klein für ihre drei Jahre, dunkel wie Juanita, mit großen, blanken Augen, in denen sich jedes neue von ihr entdeckte Wunder spiegelte.
Juanita drückte sie an sich und sprach ihr liebevoll vor: »Bremse, amorcito.«
Die Stille in dem Haus besagte deutlich, daß die anderen Kinder schon alle gegangen waren.
Miss Ferroe, Inhaberin und Leiterin des Kindergartens, kam steif, mit gerunzelter Stirn herein. Sie warf einen vielsagenden Blick auf ihre Armbanduhr.
»Mrs. Nunez, als besonderes Entgegenkommen hat Estela Erlaubnis erhalten, länger zu bleiben als die anderen, aber dies ist wirklich viel zu spät... «
»Es tut mir leid, Miss Ferroe. In der Bank ist etwas Unvorhergesehenes passiert.«
»Auch ich habe private Verpflichtungen. Und die anderen Eltern beachten die Schlußzeiten unserer Schule.«
»Es wird nicht wieder vorkommen. Ich verspreche es.«
»Gut. Und da Sie gerade hier sind, Mrs. Nunez - darf ich Sie daran erinnern, daß die letzte Monatsrechnung für Estela noch nicht beglichen ist.«
»Ich zahle am Freitag. Dann bekomme ich mein Gehalt.«
»Ich bedaure, es erwähnen zu müssen, bitte verstehen Sie das. Estela ist ein liebes kleines Mädchen, und wir freuen uns, sie bei uns zu haben. Aber auch ich habe Rechnungen zu begleichen... «
»Ich verstehe. Freitag ganz bestimmt. Ich verspreche es.«
»Das ist das zweite Versprechen, Mrs. Nunez.«
»Ja, ich weiß.«
»Also gute Nacht dann. Gute Nacht, Estela.«
Trotz ihrer steifleinenen Art konnte diese Frau hervorragend mit Kindern umgehen, und Estela war glücklich dort. Das Geld, das sie dem Kindergarten noch schuldete, würde sie diese Woche von ihrem Gehalt nehmen müssen. Wie die anderen Kassierer erhielt sie es wöchentlich per Scheck. Irgendwie mußte sie dann eben zurechtkommen. Wie, das wußte sie noch nicht genau. Als Kassiererin verdiente sie 98 Dollar pro Woche. Nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben blieben ihr netto 83 Dollar. Davon mußte sie das Essen für zwei Personen bezahlen, die Miete für die kleine Etagenwohnung in Forum East ebenfalls, und auch die Finanzierungsgesellschaft würde die Zahlung der fälligen Raten verlangen, weil sie die letzte nicht überwiesen hatte.
Bevor Carlos vor einem Jahr einfach weggegangen und nicht wiedergekommen war, hatte Juanita in ihrer Naivität gemeinsam mit ihrem Mann einige Abzahlungsverträge unterschrieben. Er hatte sich Anzüge gekauft, einen Gebrauchtwagen, ein Farbfernsehgerät, und alles hatte er mitgenommen. Juanita zahlte noch immer; die Raten schienen sich grenzenlos in die Zukunft fortzupflanzen.
Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, dachte sie, als zur Finanzierungsgesellschaft zu gehen und um noch niedrigere Raten zu bitten. Man würde wieder unfreundlich reagieren, aber das mußte sie ertragen.
Auf dem Weg nach Hause hüpfte Estela fröhlich neben ihr her, die eine kleine Hand fest in Juanitas gelegt. In der anderen Hand trug Juanita das sorgsam zusammengerollte Bild, das Estela gemalt hatte. In der Wohnung angelangt, würden sie dann Abendbrot essen und hinterher zusammen spielen und lachen. Heute abend würde ihr das Lachen schwerfallen, dachte Juanita.
Die Angst und die Hilflosigkeit, die sie am Nachmittag empfunden hatte, vertieften sich noch, als sie zum ersten Mal daran dachte, was geschehen würde, wenn sie ihre Stellung verlor. Die Wahrscheinlichkeit war groß, das wußte sie.
Sie wußte auch, daß es sehr schwer sein würde, eine andere Arbeit zu finden. Keine andere Bank würde sie einstellen, und andere Arbeitgeber würden sie nach ihrem bisherigen Arbeitsplatz fragen, man würde sich erkundigen, von dem verschwundenen Geld hören und ihre Bewerbung ablehnen.
Was sollte sie machen, wenn sie keine Arbeit hatte? Wie sollte sie Estela versorgen?
Plötzlich blieb Juanita stehen, nahm ihre Tochter in die Arme und preßte sie an sich.
Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß ihr morgen jemand glauben, die Wahrheit erkennen würde...
Jemand, irgendjemand.
Aber wer?
Auch Alex Vandervoort war in der Stadt unterwegs.
Als er am Nachmittag von seinem Gespräch mit Nolan Wainwright zurückgekehrt war, hatte Alex, in seiner Büro-Suite auf und ab marschierend, versucht, die neuesten Ereignisse in die rechte Perspektive zu rücken. Ben Rossellis Ankündigung vom Vortag bot genügend Stoff zum Nachdenken. Desgleichen die neue, sich daraus ergebende Situation in der Bank. Und reichlich Stoff zum Nachdenken boten auch die Dinge, die sich in den letzten Monaten in Alex Vandervoorts persönlichem Leben entwickelt hatten.
Auf und ab zu marschieren - zwölf Schritte hin, zwölf Schritte zurück -, das war eine alte Gewohnheit von ihm. Einoder zweimal war er stehengeblieben und hatte noch einmal die gefälschten Keycharge-Kreditkarten, die der Sicherheitschef ihm überlassen hatte, genau betrachtet. Kredite und Kreditkarten beschäftigten ihn noch zusätzlich - nicht nur gefälschte Karten, sondern auch die echten.
Die echten waren hier durch Fahnenabzüge von Anzeigen vertreten, die auf seinem Schreibtisch ausgebreitet lagen. Texte und Layout stammten von der Werbeagentur Austin, und die Anzeigen hatten den Zweck, die Inhaber von KeychargeKreditkarten zur stärkeren Benutzung ihrer Karten anzuregen.
Eine Anzeige drängte:
GELDSORGEN? WARUM?
BENUTZEN SIE IHRE KEYCHARGE-KARTE
UND
ÜBERLASSEN SIE UNS IHRE GELDSORGEN!
Eine andere behauptete:
RECHNUNGEN SIND SCHMERZLOS WENN SIE SAGEN »BUCHEN SIE'S VON MEINEM KEYCHARGE-KONTO AB!«
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