Miles Eastin hatte den Haupteingang wieder verschlossen und kam jetzt zurück.
»So«, sagte er fröhlich, »Zeit, daß wir unter die Dusche kommen.«
Der Sicherheitschef nickte. »Das war mal wieder ein Tag...«
Eastin schien noch etwas sagen zu wollen, besann sich dann aber anders.
»Haben Sie noch was auf dem Herzen?« fragte Wainwright.
Wieder zögerte Eastin, aber dann gab er zu: »Doch, ja, da wäre noch was. Ich hab's bisher noch nicht erwähnt; vielleicht bilde ich es mir nur ein.«
»Hat es was mit dem verschwundenen Geld zu tun?«
»Ich glaube schon.«
Wainwright sagte mit einiger Schärfe: »Dann raus mit der Sprache, auch wenn Sie nicht ganz sicher sind.«
Eastin nickte. »Bitte, wenn Sie meinen....«
Wainwright wartete.
»Sie haben ja gehört - ich glaube, von Mrs. D'Orsey -, daß Juanita Nunez verheiratet ist. Ihr Mann hat sie verlassen. Er hat sie mit dem Kind sitzenlassen.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Als die beiden noch zusammen lebten, kam er gelegentlich hierher. Um sie zu sprechen, vermute ich. Ich habe ein, zwei Mal ein paar Worte mit ihm gewechselt. Sein Name war - ach ja, jetzt fällt's mir wieder ein. Er hieß Carlos.«
»Und? Was ist mit ihm?«
»Ich glaube, er war heute in der Bank.«
Wainwright sah ihn scharf an. »Sind Sie sicher?«
»Sicher? Na ja, also vor Gericht beschwören würde ich es nicht. Mir ist nur jemand aufgefallen; nanu, hab' ich gedacht, da ist ja Carlos! Aber dann hab' ich die Sache gleich wieder vergessen. Ich hatte viel zu tun. Es gab auch keinen Grund, darüber nachzudenken - erst sehr viel später.«
»Wann war das, als Sie ihn sahen?«
»Das muß so gegen zehn, elf Uhr gewesen sein.«
»Dieser Mann, der Ihrer Meinung nach der Mann von Mrs. Nunez gewesen sein könnte - haben Sie gesehen, daß er zu ihrem Schalter gegangen ist?«
»Nein, das habe ich nicht gesehen.« Eastins hübsches junges Gesicht wirkte zergrübelt und unsicher. »Wie gesagt, ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Ich kann nur eins sagen: Wenn er es wirklich war, dann hat er nicht sehr weit von Juanita gestanden.«
»Das ist alles?«
»Ja.« Und Miles Eastin fügte fast ein wenig zerknirscht hinzu: »Tut mir leid, aber mehr weiß ich wirklich nicht.«
»Gut, daß Sie es mir gesagt haben. Es könnte wichtig sein.«
Wenn Eastin sich nicht geirrt hatte, dachte Wainwright, könnte die Anwesenheit des Mannes zu seiner eigenen Theorie passen, daß die Frau nämlich einen Komplicen gehabt haben müsse; vielleicht lebte sie wieder mit ihrem Mann zusammen, oder die beiden hatten eine Absprache getroffen. Vielleicht hatte sie ihm das Geld am Schalter ausgezahlt, und er hatte damit die Bank verlassen, um die Beute später mit ihr zu teilen. Es war immerhin eine Möglichkeit, die das FBI interessieren würde.
»Von dem verschwundenen Geld mal abgesehen«, sagte Eastin, »reden alle in der Bank von Mr. Rosselli - wir haben gestern davon gehört, von seiner Krankheit. Die Leute sind ganz erschüttert.«
Plötzlich und schmerzlich fiel Wainwright alles wieder ein, als er den jüngeren Mann betrachtete, der gewöhnlich so strahlender Laune war, in diesem Augenblick aber ehrlich niedergeschlagen und traurig aussah.
Gleichzeitig gestand Wainwright sich ein, daß die Untersuchung bei ihm jeden Gedanken an Ben Rosselli verdrängt hatte. Und jetzt, als ihm alles wieder ins Gedächtnis zurückgerufen wurde, empfand er neuen Zorn darüber, daß Diebereien auch zu solcher Zeit ihr jämmerliches Zeichen setzen durften.
Er murmelte einen Abschiedsgruß, wünschte Eastin eine gute Nacht und verließ die Cityfiliale durch den Tunnel. Mit seinem Hauptschlüssel öffnete er die Tür zum Tower der Zentrale.
Auf der anderen Straßenseite wartete Juanita Nunez - eine winzige Gestalt vor dem hochaufragenden Gebäudekomplex der First Mercantile American Bank und der Rosselli Plaza noch immer auf ihren Bus.
Sie hatte gesehen, wie der Sicherheitschef sie von einem Fenster der Bank aus beobachtete, und aufgeatmet, als das Gesicht verschwand, obwohl ihr die Vernunft sagte, daß die Erleichterung nur vorübergehend sein konnte, daß das Elend der letzten Stunden wiederkehren und es am nächsten Tag ebenso schlimm, wenn nicht viel schlimmer sein würde.
Ein kalter Wind, der messerscharf durch die Straßen der Stadt fegte, drang durch ihren dünnen Mantel und ließ sie erschauern. Der Bus, den sie gewöhnlich nahm, war abgefahren. Sie hoffte, daß bald der nächste kam.
Dieses Erschauern kam, wie Juanita wußte, zum Teil auch von ihrer Angst, denn in diesem Augenblick hatte sie eine Angst, die entsetzlicher war als alles, was sie in ihrem Leben bisher durchgemacht hatte.
Sie hatte Angst, und sie war ratlos.
Ratlos, weil sie keine Ahnung hatte, wie das Geld verschwunden war.
Juanita wußte, daß sie das Geld nicht gestohlen hatte, daß sie es nicht versehentlich über den Schaltertisch hinweg ausgezahlt hatte, daß sie es auch nicht auf irgendeine andere Weise beiseite geschafft hatte.
Das Schlimme war nur: kein Mensch würde ihr das glauben.
Sie hätte es wahrscheinlich auch nicht geglaubt, wenn die Sache einer Kollegin passiert wäre, gestand sie sich ein.
Wie konnten die sechstausend Dollar nur verschwunden sein? Es war unmöglich, unmöglich. Und doch waren sie verschwunden.
Immer wieder hatte sie sich an diesem Nachmittag jeden einzelnen Augenblick des Tages in die Erinnerung zurückgerufen, um eine Erklärung zu finden. Es gab keine. Sie hatte an jede einzelne Bargeld-Transaktion gedacht, die am Vormittag und am frühen Nachmittag über ihren Schalter gegangen war, und sie hatte dabei ihre, wie sie wohl wußte, ungewöhnlich starke Erinnerungskraft bis aufs äußerste angespannt, aber ihr war keine Lösung eingefallen. Nicht einmal die unwahrscheinlichsten Vermutungen, die sie anstellte, erbrachten irgendeinen Hinweis.
Sie wußte auch ganz genau, daß sie ihr Geldfach sicher verschlossen hatte, ehe sie es vor ihrer Mittagspause in den Tresorraum brachte, und sie wußte, daß es noch verschlossen war, als sie zurückkam; auch, daß sie die Kombination, die sie sich selbst ausgedacht, die sie selbst eingestellt hatte, keinem Menschen gegenüber je erwähnt hatte. Sie hatte sie auch nie aufgeschrieben; sie verließ sich, wie üblich, auf ihr Gedächtnis.
Und gerade dieses Gedächtnis hatte ihre Lage eigentlich noch verschlimmert.
Als sie um 14.00 Uhr die genaue Summe genannt hatte, die ihr fehlte, hatte ihr, wie sie wohl wußte, niemand geglaubt weder Mrs. D'Orsey noch Mr. Tottenhoe, noch Miles, der am freundlichsten von allen zu ihr gewesen war. Sie hatten es nicht für möglich gehalten, daß sie den Betrag kennen konnte.
Aber sie hatte ihn gekannt. Sie wußte immer, wieviel Bargeld sie noch hatte, wenn sie an ihrer Kasse stand. Nur konnte sie es den Leuten nicht erklären, wie oder warum das so war.
Sie war sich nicht einmal selbst genau im klaren darüber, wie sie die laufenden Additionen und Subtraktionen in ihrem Kopf vornahm. Es funktionierte einfach. Es geschah ganz ohne Anstrengung, die Rechenvorgänge waren ihr kaum bewußt. Solange Juanita zurückdenken konnte, waren ihr Addieren und Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren so einfach wie das Atmen erschienen und ebenso natürlich.
Sie tat es automatisch, wenn sie am Schalter Geld von einem Kunden entgegennahm oder Geld auszahlte. Und sie hatte es sich angewöhnt, immer wieder einen Blick auf ihren Barbestand zu werfen, zu kontrollieren, ob das Geld, das sie noch zur Verfügung hatte, auch wirklich vorhanden war, ob die Noten der verschiedenen Werte alle in ausreichender Menge an ihrem vorgeschriebenen Platz lagen. Es klappte sogar bei den Münzen. Da wußte sie zwar die Gesamtsumme nicht so genau wie bei den Noten, aber sie konnte den Betrag jederzeit recht genau überblicken und schätzen. Manchmal, wenn sie am Ende eines besonders lebhaften Tages ihr Geld nachzählte und durchrechnete, konnte die Zahl, die sie im Kopf hatte, um ein paar Dollar von der tatsächlichen Summe abweichen, um mehr aber nie.
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