„Neandertaler“, zischte Castillo Brody genervt zu.
„Ach ja? Dir tut es vielleicht gut, mal ordentlich an den Haaren gezogen zu werden.“
„Ist das eine Herausforderung, alter Mann?“, fragte Castillo und machte selbstbewusst einen Schritt auf ihn zu. Ich trete deinen gestrandeten Wal-Hintern zurück ins Meer!“
„Es reicht!“, rief Hillman. „Wir haben keine Zeit für diese Kindereien! Ein zwölfjähriges Mädchen braucht unsere Hilfe. Brody, noch ein sexistischer Kommentar und ich suspendiere Sie für den Rest Ihrer beruflichen Karriere – auch wenn die nur noch einen Monat dauert. Verstanden?“
Brody presste die Lippen aufeinander. Castillo sah aus. Als wäre sie noch nicht fertig mit ihm, deswegen legte Keri ihre Hand beruhigend auf ihre Schulter und schob drehte sie zu sich um.
„Lass es, Jamie“, flüsterte sie ihr zu. „Der Mann ist nur noch einen Burrito von einem Harzinfarkt entfernt. Du willst doch nicht, dass man dir die Schuld dafür in die Schuhe schiebt.“
Castillo kicherte leise, obwohl sie immer noch wütend war. Sie wollte antworten, doch da betrat Detective Manny Suarez den Konferenzraum. Manny war kein besonders attraktiver Mann. Er war etwas zu dick, hatte wilde Bartstoppeln und Augenlider, die Keri immer an Schnarchi-Schlumpf erinnerten. Er war jedoch ein hervorragender Detective, der gerade von dem FedEx-Büro zurückkam, in dem die Lösegeldforderung aufgegeben worden war. Keri hoffte, dass er Neuigkeiten hatte.
„Was haben Sie herausgefunden?“, fragte Hillman ohne Umschweife.
Suarez schüttelte den Kopf, setzte sich an den Tisch und legte einen einsamen Kassenzettel auf den Tisch.
„Das ist alles“, sagte er. „Das ist das einzige Beweismittel, das in diesem FedEx-Laden aufzuspüren war. Wir wissen jetzt Datum und Uhrzeit sowie dass es bar bezahlt wurde. Mehr nicht.“
„Gibt es denn dort keine Videoüberwachung?“, fragte Hillman.
„Doch, schon, aber sie ist absolut nutzlos. Die Kamera vor dem Gebäude zeigt jemanden mit riesigem Kapuzenpulli, Cappie und Sonnenbrille. Ich habe die Aufnahmen rausgeschickt, aber ich glaube kaum, dass sie etwas ergeben. Man kann nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.“
„Keine Innenaufnahmen?“, fragte Castillo.
Suarez zog ein Blatt Papier aus einem Umschlag und legte es neben den Kassenzettel. Es sah aus wie ein Foto, aber es war weiß mit dunklem Rand.
„Das ist alles, was die Innenkamera aufgenommen hat, solange die Person im Gebäude war. Sieht aus, als hätte er eine Sonnenbrille benutzt, die Laserstrahlen bricht, um die Aufnahmen zu zerstören“, erklärte Manny.
„Dann kennt er sich aber sehr gut mit Technik aus“, bemerkte Edgerton beeindruckt. „So etwas habe ich nur einmal bei einem Banküberfall gesehen.“
„Gab es vielleicht andere Kameras, in die er nicht direkt hineingeschaut hat?“, fragte Ray.
„Ja, die gab es. Aber der Verdächtige schien sich dessen bewusst zu sein und stand so, dass man ihn nur von hinten sieht. Er wusste genau, was er tat.“
„Ich schätze, dass er auch auf keinen anderen Außenkameras zu sehen war?“, hakte Keri nach. „Ist er nicht vielleicht in ein Auto gestiegen, das wir näher bestimmen könnten?“
„Leider nein“, entgegnete Suarez. „Man sieht ihn noch um die nächste Ecke gehen, aber dort gibt es Industrieunternehmen ohne Überwachungskameras. Von dort kann er überallhin gegangen sein. Keine Chance ihn weiter zu verfolgen.“
„Ich sage es nicht gerne“, begann Edgerton mit Blick auf seinen Laptop, „aber ich habe gerade den Bericht der Spurensicherung erhalten. Schlechte Nachrichten: Sie konnten auf Jessicas Handy und Rucksack keine fremden Fingerabdrücke feststellen.“
Lieutenant Hillmans Handy klingelte, aber er forderte Edgerton mit einer Handbewegung auf, weiterzureden, während er den Raum verließ um den Anruf zu beantworten. Kevin fuhr also fort.
„Ich habe ihre SIM-Karte ein Programm durchlaufen lassen, das auffällige Aktivitäten aufzeigt. Der Vorgang wurde gerade abgeschlossen, es konnten aber keine Unregelmäßigkeiten festgestellt werden. Jeder Anruf und jede SMS der vergangenen drei Monate kam von oder ging an Freunde und Familie.“
Keri und Ray tauschten einen stummen Blick aus. Nicht einmal die Spannungen zwischen ihnen änderte etwas an ihrer geteilten Sorge, dass ihnen der Fall langsam entglitt.
Noch bevor jemand auf Edgertons Mitteilung reagieren konnte, erschien Hillman wieder. Keri sah ihm an, dass es noch mehr schlechten Nachrichten gab.
„Das war Dr. Feeney“, sagte er. „Er vermutet, dass der Täter die religiösen Fantasien als Ablenkung benutzt und eigentlich nur an das Geld will.“
Wunderbar. Alle Spuren führen ins Nichts und sämtliche Kollegen gehen von einer kalkulierten Entführung aus, die mit der Geldübergabe gelöst werden kann.
Keri konnte es selbst nicht erklären, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass das ein gefährlicher Irrglaube war; dass der Entführer etwas ganz anderes wollte. Keri befürchtete, dass Jessica, wenn sie nicht bald auf die richtige Spur kamen, am Ende dafür bezahlen musste.
Der Zeitpunkt der Geldübergabe näherte sich. Keri versuchte, das beunruhigende Angstgefühl zu ignorieren. Mit jeder Minute, die verstrich, verkleinerte sich ihr Handlungsspielraum. Sie redete sich ein, nicht die Hoffnung aufzugeben und an Jessica zu denken, die wahrscheinlich verzweifelt darauf wartete, gefunden zu werden.
Sowie sich FedEx und Jessicas gefundene Gegenstände als Sackgasse erwiesen hatten, hatte sich das Team auf allgemeinere – und damit weniger aussichtsreiche Optionen konzentriert.
Edgerton gab alle Daten, die sie zu Jessicas Entführung hatten, zum Abgleich in die Datenbank ein. Doch leider war das eine zeitaufwendige Angelegenheit.
Er gab auch den Brief ins System ein, in der Hoffnung, dass die Sprachanalyse Parallelen zu vergangenen Fällen ergeben würde. Aber auch hierbei hatten sie wenig Hoffnung. Wäre ein derart merkwürdiger Brief schon einmal aufgetaucht, dann hätte sich jemand davon gehört.
Suarez ging die Liste von Sexualstraftätern in dieser Gegend durch. Vielleicht hatte einer schon einmal Lösegeld erpresst. Castillo war mit ein paar Kollegen zum Park gegangen, um alles für die Übergabe vorzubereiten und Brody hatte behauptet, seine Informanten zu kontaktieren, auch wenn Keri vermutete, dass er nur etwas zu Essen holen wollte.
Sie und Ray hatten sich alte Akten vorgenommen, auf der Suche nach anderen Fällen, die Jessicas Entführung ähnelten. Vielleicht handelte es sich um einen Täter, der nach einem langen Gefängnisaufenthalt wieder frei herumlief. Dann könnte es sich um einen Fall vor ihrer Zeit handeln, was erklären würde, dass niemand davon gehört hatte. Sie hatten beide keine große Hoffnung, etwas zu finden, aber sie wussten auch nicht, was sie sonst tun sollten.
Nach einer erfolglosen Stunde Recherche, beschlossen sie, wieder zum Haus der Raineys zurückzufahren. Es war fast zehn Uhr und sie fuhren dieselbe Strecke, wie am Morgen, als zwischen ihnen noch alles normal gewesen war. Bevor er sie um ein Date gebeten hatte. Das war zwar beiden bewusst, aber weil es jetzt Dringenderes gab, war die Angelegenheit vorerst auf Eis gelegt.
Während der Fahrt telefonierte Ray mit Detective Garrett Patterson, der von Revier aus alles für die Überwachung am Ort der Lösegeldübergabe, Chace Park, koordinierte.
Patterson war ein stiller Mann Mitte dreißig. Wie Edgerton war er ein Experte auf dem Gebiet der Technik. Doch anders als sein jüngerer Kollege, zeigte Patterson eine ausgeprägte Liebe zum Detail. Er liebte es, stundenlang minutiöse Einzelheiten wie Telefonnummern oder IP-Adressen zu analysieren und zu vergleichen. Das hatte ihm auch den Spitznamen Routine-Pat eingebracht, was ihm aber nichts ausmachte.
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