Das war interessant. Es war eine Lücke in ihrer Theorie, aber andererseits war es kein Beweis. Craig kannte diese Männer, aber er gehörte nicht zu den Gangs. Zumindest nicht mehr. Es gab Dinge, die sie vielleicht vor seinem Verdacht verbergen konnten.
„Danke“, sagte Shelley und streckte die Hand aus, um seine zu schütteln. „Wir melden uns, wenn wir noch etwas brauchen.“
***
Bei der Adresse, die Craig für sie auf einem Zettel notiert hatte, handelte es sich um ein heruntergekommenes, einstöckiges Gebäude mit kaputten, alten Autos, die quer über das, was der Vorgarten hätte sein sollen, geparkt waren. Eines von ihnen stand auf Betonblöcken statt auf Reifen. Nicht gerade das, was man von der Wohnung eines Drogenbarons erwarten würde.
Vielleicht hatte Craig recht, und Cesar war wirklich aus dem Spiel. Das bedeutete aber nicht, dass er keine Rachepläne mehr hegte, dachte Zoe und kaute auf ihrer Lippe herum, als sie sich umsah.
Es schien niemand in der Nähe zu sein, der sie beachtete oder ihnen hätte Schaden zufügen können. Niemand, der sie von Fenstern oder Veranden aus beobachtete, keine Autos, die langsam durch die Nachbarschaft fuhren. Keine Anzeichen dafür, dass jemand im Haus war.
„Wir sollten reingehen“, entschied Zoe, öffnete die Fahrertür und stieg aus.
Shelley folgte ihr kurz darauf. Sie wartete nicht lange, aber sie wartete. Zoe fragte sich, ob Shelley kalte Füße bekam. Wie auch immer sie es anstellen würden, sie mussten hier Untersuchungen anstellen. Egal, was sie auch vorschoben, irgendwann würden sie hier landen.
Zoe versuchte, Selbstvertrauen auszustrahlen, das sie nicht hatte, als sie zur Haustür ging und anklopfte. Dreimal, in dem kleinen Haus unüberhörbar.
Keine Reaktion.
Sie wechselte einen Blick mit Shelley, die nun dicht hinter ihr stand, und klopfte erneut an. Fester. Fünf Mal. Nicht so leicht zu ignorieren.
Da war nichts. Nicht das Knarren einer Diele oder das Flackern einer Bewegung hinter den dünnen Vorhängen. Das Wohnzimmerfenster, das man von dort sehen konnte, wo sie standen, zeigte in einen leeren Raum.
„Hier ist niemand“, sagte Zoe nach einem Moment. Es fühlte sich nicht so an, als würde man sie einfach ignorieren.
„Was nun?“, fragte Shelley, als sie auf das Auto zurückblickte. „Warten wir im Auto?“
Zoe folgte ihrem Blick und sah einen älteren lateinamerikanischen Mann, der sich auf den Stufen eines Grundstücks auf der anderen Straßenseite niedergelassen hatte. Dreiundsiebzig Jahre alt, schätzte sie. „Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht“, sagte sie und ging lässig auf ihn zu.
Es wirkte immer etwas unbeholfen, auf jemanden so zuzugehen. Der alte Mann beobachtete sie und wusste, dass sie zu ihm wollten. Er wusste, dass sie kamen, um mit ihm zu sprechen, aber er war immer noch zu weit weg, um ihn zu begrüßen. Wo sollte man hinschauen? Auf den Boden? In die Ferne, die Gegenwart des Mannes ignorierend, als hätten sie vor, einfach an ihm vorbeizugehen? Auf sein Gesicht, um Blickkontakt herzustellen, der für die lange Zeit, die sie brauchten, um die Sprechdistanz zu erreichen, unangenehm wäre?
Zoe entschied sich für eine Mischung aus allen dreien, was irgendwie noch schlimmer war, und rief ihn schließlich doch, sobald sie auf halber Strecke war.
„Entschuldigen sie, Sir?“
Er stellte sich nicht hin oder kam ihnen näher, sondern beäugte die beiden misstrauisch, aber er schenkte ihnen zumindest seine Aufmerksamkeit.
„Wir suchen den Mann, der auf der anderen Straßenseite wohnt. Wissen sie, wo er sich zu diesem Zeitpunkt aufhalten könnte?“, fragte Zoe, wobei sie ihre Worte etwas neutral hielt. Kein Grund, alles auf einmal zu verraten.
Der alte Mann grunzte. „Du meinst Cesar?“
Die Katze war also aus dem Sack. „Ja, Sir.“ Zoe blieb respektvoll. Sie hatte bemerkt, dass der Grad der Kooperation, den man bei älteren Zeugen vorfand, oft in direktem Zusammenhang damit stand, wie oft man sie "Sir" oder "Ma'am" nannte.
„Draußen an der Grube.“
„Die Grube?“, wiederholte Zoe. Es gab doch nichts Besseres, als wenn Anwohner Außenstehende durch lokales Wissen, dumm dastehen ließen.
Der alte Mann grunzte wieder und gab ihr ein ungeduldiges Schulterzucken. „Die Grube. Wo all die Jungs hingehen.“
„Meinen sie die Gangmitglieder, Sir?“ Shelley übernahm, ihr Tonfall tief und weich.
Der Lateinamerikaner rieb sich die knochigen Finger über den Scheitel, der bis auf ein paar verbleibende Strähnen fast kahl war, und nickte. „All diese Jungen. Das ist hier kein Geheimnis.“
„Könnten sie uns den Weg zeigen, Sir?“, fragte Shelley. „Wir sind nicht von hier.“
Der alte Mann sah sie von oben bis unten an und fing an zu lachen, wobei er drei Zahnlücken entblößte. „Nein, das sind sie wirklich nicht“, sagte er und lachte dann wieder, lang und laut.
Zoe tippte Shelley an. „Es wäre besser, die örtliche Polizei anzurufen“, sagte sie und deutete mit dem Kopf zum Auto zurück, bevor sie in dessen Richtung ging. Hinter ihnen hörten sie immer noch das schallende Lachen des alten Mannes, es folgte ihnen die vierundzwanzig Schritte bis zum Auto wie ein schlechter Geruch.
Zoe sank auf den Fahrersitz und knallte ihre Tür zu, vielleicht stärker als nötig.
„Wie sieht unser Plan aus?“, fragte Shelley atemlos. Ihre Wangen waren rosa. Diese ganze Begegnung hatte sie überfordert.
„Ich werde auf dem Revier anrufen“, sagte Zoe. „Dann bekommen wir Verstärkung. Die Anwohner werden wissen, was das bedeutet. Dann gehen wir rein.“
Sie wählte die Nummer auf ihrem Telefon und überlegte bereits, wie viele Leute sie verlangen würden, und ob es klug wäre, auch nach kugelsicheren Westen zu fragen
.
Zoe passte die Gurte ihrer Weste noch einmal an und fühlte dabei, wie fest der Klettverschluss und sein Gegenstück alles zusammenhielten.
Der Polizeiwagen war fast schon zu voll. Shelley saß ihr gegenüber, daneben acht Männer und Frauen des SWAT-Teams, alle in voller Ausrüstung. Zoe war das Gefühl des Helms auf ihrem Kopf nicht gewohnt. Die gepolsterten Seiten drückten gegen ihre Wangen. Trotzdem war ihr dieses Gefühl lieber, als ungeschützt irgendwo hineinzugehen.
Sie befanden sich in einer Sackgasse in kurzer Entfernung zu ihrem Ziel, dem Treffpunkt, den die Gangmitglieder ihr Zuhause nannten. Die Grube. Es stellte sich heraus, dass es sich um eine Bar handelte, oder zumindest um die Fassade einer Bar, die Art von Ort, an dem Außenseiter nicht willkommen waren. Der Zutritt wurde zu einer Razzia mit vollem Einsatz. Der örtliche Captain hatte ihnen klar gemacht, dass es bei solchen Männern keine andere Möglichkeit gab. Wenn man unbewaffnet und ungeschützt hineingehen würde, käme man als Polizist nur tot wieder heraus.
Sie hatten eine Karte zwischen sich ausgebreitet, einen gedruckten Plan des Ortes. Es handelte sich um nicht viel mehr als die Umrisse schwarzer Quadrate, eine Einschätzung auf der Grundlage dessen, was bei früheren Razzien beobachtet worden war, in Kombination mit Stadtgrundrissen.
„Es gibt drei Ausgänge – hier, hier und hier.“ Der Kommandant der Einheit zeigte auf sie, einer in jede Himmelsrichtung. „Das ist der Haupteingang, in den wir abseits der Straße stürmen werden. Erfahrungsgemäß wird sich die Gang in beide Richtungen etwa zur Hälfte aufteilen und damit versuchen, auch unsere Streitkräfte zu verteilen.“
„Was ist das hier?“, fragte Zoe und zeigte auf ein Rechteck im Gebäude selbst.
„Das ist der Barbereich. Normalerweise erwarten wir dort die meisten Menschen, wobei hier auch Tische und Stühle verteilt sind. Dort, hinter den Doppeltüren, befindet sich das private Clubhaus. Dort verbringen hauptsächlich ältere Mitglieder ihre Zeit.“
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