Glücklich, dem eiskalten Regen zu entrinnen, trat ich ein. Die Haupttreppe war wegen der umfangreichen Renovierungsarbeiten, die zurzeit überall auf dem Campus stattfanden, gesperrt, und so nahm ich den Umweg über das Kellergeschoss. Als ich den Gang zu meinem Büro entlanghastete, hörte ich, dass am Cryo-Elektronen-mikroskop bereits gearbeitet wurde. Besser gesagt: noch gearbeitet wurde. Um diese Uhrzeit konnte es sich nur um Michael Cheng handeln, der es liebte, sich die Nächte an dem gewaltigen Gerät um die Ohren zu schlagen.
»Schon wieder Sie, Mr. Cheng!«, rief ich beim Vorübergehen im Tonfall unseres Dekans, Professor Ambrose. Ich hörte einen dumpfen Schlag, als hätte sich jemand den Kopf gestoßen, und einen chinesischen Fluch, dann tauchte Michaels gerötetes Gesicht auf. »Verzeihen Sie, Dr. Am ... Ach, du bist es, David! Das zahl ich dir heim. He, warte mal 'ne Sekunde.« Er wischte die Hände an seinem T-Shirt ab und eilte hinter mir her. »Was sind das für Geschichten, die hier über dich in Umlauf sind? Irgendetwas mit dem Kongo, habe ich gehört. Ist da was dran?«
Großer Gott, dachte ich, Gerüchte verbreiten sich an dieser Universität schneller als ein Lauffeuer. Ich war noch nicht einmal richtig gelandet, und schon hatte Cheng davon erfahren. Die undichte Stelle musste sich im Umfeld von Professor Ambrose befinden. Vielleicht seine Sekretärin? Elisabeth wäre es durchaus zuzutrauen, dass sie Cheng davon erzählt hatte, schließlich gingen die beiden öfter mal zusammen aus.
»Kongo?«, fragte ich, während ich atemlos um die nächste Ecke bog. »Was erzählst du da? Ich verstehe kein Wort.«
»Liz hat solche Andeutungen gemacht.«
Bingo, dachte ich. Auf meine Intuition konnte ich mich verlassen. Ich blieb vor dem Aufzug stehen und sah Cheng in die Augen. »Hör mal, ich weiß nicht, wovon du redest. Ich werde demnächst ein paar Tage im sonnigen Kalifornien verbringen und mir Palmbridge Enterprises ansehen, ein Genforschungszentrum, das einem alten Kollegen meines Vaters gehört. Nichts weiter. Ich habe eine Einladung dorthin erhalten und finde, das ist eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen sollte.«
»Palmbridge, cool«, sagte Cheng. »Hab schon davon gehört. Die sollen ja weltweit führend in der Virenimmunisierung sein. Nimmst du mich mit?«
»Cheng«, sagte ich mit der warmherzigsten Stimme, die ich aufbringen konnte. »Ich komme gerade erst vom Flughafen, habe kaum geschlafen, stinke wie ein Iltis und muss bald wieder weg. Ich bin praktisch gar nicht anwesend. Folglich kann ich dich auch nirgendwohin mitnehmen. Die Einladung gilt außerdem nur für eine Person. Und jetzt wäre ich dir sehr dankbar, wenn ich für ein paar Stunden ungestört meinen Kram erledigen könnte.«
»Klar. Kein Problem. Hab ja auch noch viel zu tun, ehe mir Ambrose wieder den Saft abdreht.« Er sah mich aus den Augenwinkeln an. »Und du bist ganz sicher, dass du nicht in den Kongo fliegst?«
»Mach's gut, Cheng.« Ich öffnete die Aufzugtür, ließ ihn stehen und fuhr in den fünften Stock. In meinem Büro feuerte ich die Reisetasche in die Ecke und ließ mich mit einem Seufzer der Erleichterung in meinen
Arbeitsstuhl sinken. Mein Körper fühlte sich an, als würde er direkt aus einer Schwerkraftzentrifuge kommen. Wie manche Menschen es aushielten, dauernd um den Globus zu reisen, ohne dabei den Verstand zu verlieren, war mir ein Rätsel. Ich jedenfalls war von der Aussicht, morgen schon wieder ins Flugzeug steigen zu müssen, nicht begeistert. Ich hatte noch so viel zu erledigen. Und dann brauchte ich noch dringend eine Mütze Schlaf. Erschöpft ließ ich mich in den Stuhl sinken, faltete die Hände hinterm Kopf und schloss die Augen. Endlich Ruhe.
Als ich das nächste Mal auf die Uhr blickte, war der Zeiger um eine halbe Stunde vorgerückt. Auf den Gängen herrschte nun die übliche Betriebsamkeit.
»Verdammt!« Ich richtete mich kerzengerade auf und rieb mir die Augen. Zum Glück hatte ich nur eine halbe Stunde gedöst. Wäre der Stuhl nur eine Spur bequemer gewesen, hätte ich sicher den Rest des Tages in Morpheus' Armen verbracht. Dabei hatte ich noch so viel zu erledigen. Ich griff nach dem Telefon und wählte eine Nummer. Es hatte keinen Sinn, sich noch länger vor diesem Anruf zu drücken. Mit einem unguten Gefühl wartete ich. Es dauerte nicht lange und eine weibliche Stimme meldete sich.
»Sarah Hatfield, hallo?«
Ich hatte einen Kloß im Hals. »Ich bin's, David.«
Pause.
»Hallo, Sarah, bist du noch dran?«
Die Stimme auf der anderen Seite klang seltsam gepresst. »Du bist ganz schön mutig, hier anzurufen.«
»Ich muss dich sehen. Hast du Zeit?«
»Wann?«
»Sofort.«
Sie zögerte einen Moment. »Was ist passiert?«
»Das kann ich dir am Telefon nicht sagen, aber es ist wichtig. Ich lad dich zu 'nem Kaffee in der Cafeteria ein.«
»Wie romantisch. Du hast doch nicht etwa vor, dich zu entschuldigen, oder?« An der Art, wie sie das letzte Wort betonte, erkannte ich, dass sie genau das von mir erwartete.
»Bitte, Sarah, darüber haben wir doch schon gesprochen.«
»Gar nichts haben wir. Wenn ich deiner Erinnerung mal kurz auf die Sprünge helfen darf: Du hast gesagt, du würdest dich melden, mich zum Essen ausführen oder einfach etwas mit mir unternehmen. Du hast es mir versprochen, erinnerst du dich? Und was ist geschehen? Nichts.Nada. Ich weiß nicht, wie du dir das mit uns vorgestellt hast, aber so geht es jedenfalls nicht.«
»Ich würde wirklich gern mehr Zeit mit dir verbringen«, versuchte ich mich herauszureden, »aber ich habe gerade so viel um die Ohren, dass ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht.«
»Du lügst - und das weißt du auch ganz genau.« Sarahs Stimme bekam einen kalten Klang. Kein gutes Zeichen.
»Erst vor einer Woche hat meine Freundin Ellen dich und deine Freunde bei irgendeinem Konzert gesehen.«
»... bei den Red Hot Chilli Peppers.«
»Ist mir scheißegal, wer das war«, sagte sie. »Ein paar Tage vorher bist du durch irgendwelche Kneipen getingelt, und so weiter. Tatsache ist, dass du vor mir davonläufst.«
»Das stimmt nicht, Sarah, ich .«
»Mach's gut, David.«
»Halt, bitte leg nicht auf. Ich tue alles, was du willst. Ich werde es dir erklären und mich entschuldigen, wenn du nur kommst.«
Die Stimme am anderen Ende zögerte. »Ehrenwort?«
»Wenn ich's doch sage.«
»Warte mal 'nen Moment.« Ich hörte Geraschel neben dem Telefon, dann war sie wieder da. »Na gut. Ich habe Stanford in der zweiten Stunde, den kann ich sausen lassen. Wenn du möchtest, bin ich in zehn Minuten da. Aber du solltest dir was einfallen lassen, sonst bin ich genauso schnell wieder weg.«
»Danke, Sarah. Bis gleich.« Ich legte den Hörer auf und atmete tief durch. Der schwerste Teil war überstanden. Ich überlegte, ob ich noch jemanden ins Vertrauen ziehen sollte, doch mir fiel niemand ein. In diesem Moment öffnete sich die Tür und Professor J. N. Ambrose trat ein. Mr. Am, wie wir ihn scherzhaft nannten, weil er sich ständig räusperte, war ein großer, übergewichtiger Mann mit einer Halbglatze und einer schwer nachzuvollziehenden Vorliebe für Cordanzüge. Er warf einen Blick über die Schulter, so, als habe er Angst, beobachtet zu werden. Dann huschte er herein, schloss die Tür und fixierte mich über den Rand seiner Nickelbrille hinweg.
»David, David«, sagte er, und in der Art wie er das sagte, schwang sowohl Tadel als auch Respekt mit. »Sie bringen mich ganz schön in Schwierigkeiten.«
»Sir?«
Er zog einen Hocker zu sich heran und ließ sich geräuschvoll daraufplumpsen. Ich seufzte. Das schien etwas Längeres zu werden. Ich schielte auf die Uhr, denn ich wollte auf keinen Fall die Verabredung mit Sarah verpassen.
»Sind Sie glücklich bei uns?« Ambrose schenkte mir ein Lächeln, dass schwer einzuordnen war.
Читать дальше