Das Auto - es war ein Auto, kein Pick-up - fuhr vorbei, ohne langsamer zu werden. Aus seinem Inneren drang der Sound von Bachman-Turner Overdrive, voll aufgedreht: »B-B-B-Baby, you just ain’t seen n-n-nuthin yet«. Sie beobachtete, wie die Heckleuchten schlagartig verschwanden. Sie merkte, dass sie kurz davor war, wieder wegzutreten, und schlug sich mit beiden Händen ins Gesicht.
»Nein!«, knurrte sie. »Nein!«
Sie kam wieder ein Stück weit zu Sinnen. Der Drang, in den Büschen versteckt zu bleiben, war stark, aber dort konnte sie nicht bleiben. Nicht nur war es noch lange bis
Tess hob den Teppichrest aus dem Straßengraben auf, um ihn sich wieder um die Schultern zu legen, berührte dann ihre Ohren und wusste bereits, was sie finden würde. Die tropfenförmigen Brillantohrringe, eine ihrer wenigen wirklichen Extravaganzen, waren weg. Sie brach erneut in Tränen aus, aber dieser Weinkrampf war kürzer, und als er vorbei war, fühlte sie sich mehr wie sie selbst. Mehr in sich selbst, eine Bewohnerin ihres Kopfs und Körpers, statt sich nur wie ein Gespenst zu umschweben.
Nachdenken, Tessa Jean!
Also gut, sie würde es versuchen. Aber sie würde es im Gehen tun. Und kein Gesang mehr. Der Klang ihrer veränderten Stimme war unheimlich. Als ob der Riese durch seine Vergewaltigung eine neue Frau erschaffen hätte. Sie wollte keine neue Frau sein. Die alte hatte ihr gefallen.
Gehen. Bei Mondschein gehen, während ihr Schatten neben ihr über die Straße glitt. Welche Straße? Stagg Road. Laut Tom war sie etwas weniger als vier Meilen von der Kreuzung mit der US 47 entfernt gewesen, als sie in die Falle des Riesen geraten war. Das war nicht so schlimm; um in Form zu bleiben, lief sie jeden Tag mindestens drei Meilen oder benutzte bei Schnee oder Regen ihren Hometrainer. Natürlich war dies ihr erster Marsch als die Neue Tess, die mit der schmerzenden, blutenden Möse und der rauchigen Stimme. Aber es gab eine positive Seite: Ihr wurde allmählich warm, die obere Hälfte ihrer Kleidung trocknete, und sie trug flache Schuhe. Beinahe hätte sie dreiviertelhohe Pumps getragen, die diesen Abendspaziergang wirklich sehr unangenehm gemacht hätten. Nicht dass er unter anderen Umständen angenehm gewesen wäre, nein nein n…
Nachdenken!
Aber bevor sie das konnte, wurde die Straße vor ihr hell. Tess flitzte wieder in die Büsche und schaffte es diesmal, den Teppichrest nicht zu verlieren. Ein weiteres Auto, Gott sei Dank nicht sein Pick-up, aber sie wurde nicht langsamer.
Er könnte es trotzdem sein. Vielleicht ist er in ein Auto umgestiegen. Er kann zu seinem Haus, seinem Schlup fwinkel zurückgefahren und in ein Auto umgestiegen sein. Weil er denkt: »Sie wird sehen, dass es kein Pick-up ist, und aus ihrem Versteck kommen. Sie wird mich anhalten, und dann hab ich sie.«
Ja, ja. Genau das würde in einem Horrorfilm passieren, oder? Kreischende Opfer 4 oder Stagg Road Horror 2 oder …
Sie drohte abermals wegzutreten, also schlug sie sich wieder ins Gesicht. Sobald sie zu Hause war, sobald Fritzy gefüttert war und sie in ihrem Bett lag (alle Türen abgesperrt, alle Lampen eingeschaltet), konnte sie so viel wegtreten, wie sie wollte. Aber nicht jetzt. Nein nein nein. Jetzt musste sie weitergehen und sich verstecken, wenn Autos kamen. Wenn sie das schaffte, würde sie irgendwann die U S 47 erreichen, an der es einen Laden geben konnte. Einen mit einem Kartentelefon, wenn sie Glück hatte … und sie hatte etwas Glück verdient. Ihre Handtasche war weg, die lag noch in dem Expedition (wo auch immer der sein mochte), aber sie wusste die Nummer ihrer Telefonkarte von AT&T auswendig: ihre eigene Telefonnummer, dann 9712. Kinderleicht.
Am Straßenrand stand ein Schild. Tess konnte es im Mondschein mühelos lesen:
SIE HABEN COLEWICH ERREICHT
WILLKOMMEN, FREUND!
»Du magst Colewich, es mag dich«, flüsterte sie.
Tess kannte diese Gemeinde, deren Name von den Einheimischen »Collitch« ausgesprochen wurde. Es war in Wirklichkeit eine Kleinstadt, eine der vielen in Neuengland, die wohlhabend gewesen waren, solange die Textilindustrie floriert hatte, und sich in der neuen Freihandelsära, in der Amerikas Hosen und Jacken in Asien oder Mittelamerika genäht wurden - vermutlich von Kindern, die weder lesen noch schreiben konnten -, irgendwie durchwurstelten. Sie befand sich in den Außenbezirken, aber sie konnte bestimmt bis zu einem Telefon weitergehen.
Was dann?
Dann würde sie … würde sie …
»Eine Limousine bestellen«, sagte sie. Diese Idee brach wie ein Sonnenaufgang über sie herein. Ja, genau das würde sie tun. Wenn sie hier in Colewich war, war ihre Heimatstadt in Connecticut nur dreißig Meilen weit entfernt, vielleicht weniger. Der Limo-Service, den sie für Fahrten zum Bradley International Airport oder nach Hartford oder New York benutzte (Tess fuhr in keiner Großstadt selbst Auto, wenn es sich vermeiden ließ), hatte seinen Sitz in der Nachbarstadt Woodfield. Die Firma Royal Limousine warb damit, Tag und Nacht dienstbereit zu sein. Noch besser war, dass ihre Kreditkarteninformationen dort gespeichert sein mussten.
Tess fühlte sich besser und steigerte ihr Tempo ein wenig. Dann erhellten Autoscheinwerfer die Straße, und sie flüchtete wieder in die Büsche, kauerte nieder und kam sich wie ein gejagtes Tier vor: Ricke, Füchsin, Häsin. Dieses Fahrzeug war ein Pick-up, und sie begann zu zittern. Sie zitterte selbst dann weiter, als sie sah, dass der Pick-up ein kleiner weißer Toyota war, viel kleiner als der alte Ford des Riesen. Als er vorbei war, versuchte sie, sich dazu zu zwingen, auf der Straße weiterzugehen, aber das konnte sie zunächst
Sie zwang sich dazu, daran zu denken, wie sie sich bei dem Limo-Fahrer bedankte und auf der Kreditkartenabrechnung ein Trinkgeld hinzufügte, bevor sie zwischen Blumenrabatten langsam zur Haustür ging. Wie sie den Briefkasten hochkippte, um an den Reserveschlüssel dahinter heranzukommen. Wie sie Fritzy ängstlich miauen hörte.
Der Gedanke an Fritzy gab den Ausschlag. Sie kroch aus dem Gebüsch, marschierte weiter die Straße entlang und hielt sich bereit, sofort wieder in Deckung zu flitzen, sobald sie Autoscheinwerfer sah. Augenblicklich. Weil er irgendwo dort draußen war. Ihr wurde bewusst, dass er in Zukunft stets irgendwo dort draußen sein würde. Falls die Polizei ihn nicht schnappte und einsperrte. Aber damit es dazu kommen konnte, musste sie Anzeige erstatten, und sobald ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, glaubte sie, eine marktschreierische Schlagzeile im Stil der New York Post vor sich zu sehen:
»WILLOW GROVE«-AUTORIN NACH LESUNG
VERGEWALTIGT
Klatschblätter wie die Post würden sicher ein Foto bringen, das sie vor zehn Jahren zeigte, als ihr erstes Strickclub -Buch erschienen war. Damals war sie Ende zwanzig gewesen, mit weit über schulterlangen dunkelblonden Haaren und guten Beinen, die sie gern in kurzen Röcken zur Schau stellte. Sie hat es gewollt … sie hat es gekriegt.
War das realistisch, oder malten ihre Beschämung und ihr erheblich lädiertes Selbstwertgefühl sich nur den schlimmstmöglichen Fall aus? Jener Teil von ihr, der lieber in den Büschen versteckt bleiben wollte, selbst wenn es ihr gelang, von dieser scheußlichen Straße wegzukommen, diesen scheußlichen Staat Massachusetts hinter sich zu lassen und ihr sicheres Häuschen in Stoke Village zu erreichen? Sie konnte es sich nicht beantworten und vermutete, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen lag. Eines wusste sie jedoch: Sie würde das landesweite Medienecho bekommen, das sich jede Autorin wünschen würde, wenn ein Buch von ihr erschien, und das sich keine Autorin wünschen konnte, wenn sie vergewaltigt und ausgeraubt und als tot liegen gelassen worden war. Sie konnte förmlich sehen, wie jemand in der Frageperiode die Hand hob und wissen wollte: »Haben Sie ihn irgendwie ermutigt?«
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