Seine Augen standen weit offen, doch ihr Glanz war verschwunden. Er war tot.
Vernon starrte von Grauen geschüttelt vor sich hin. Er brachte kein Wort heraus. Tom legte eine Hand auf die Schulter seines Bruders und merkte, wie er zitterte. Es war ein garstiger Tod gewesen.
Auch Don Alfonso war schwer erschüttert. »Wir müssen weiter«, sagte er. »Ein böser Geist ist gekommen und hat den Mann mitgenommen, obwohl er nicht gehen wollte.«
»Bereiten Sie eines der Boote für die Rückreise vor«, sagte Tom zu Don Alfonso. »Pingo soll Vernon nach Brus bringen, bevor wir weiterfahren. Falls Sie keine Einwände haben.«
Don Alfonso nickte. »Es ist besser so. Der Sumpf ist kein Ort für Ihren Bruder.« Er rief Chori und Pingo Anweisungen zu. Die nicht weniger entsetzten Männer machten sich an die Arbeit. Sie waren froh, dass sie verschwinden konnten.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Vernon. »Er war ein so guter Mensch. Wie konnte er nur so sterben?«
Nach Toms Ansicht war Vernon ständig Schwindlern auf-gesessen - finanziell, gefühlsmäßig und spirituell. Doch jetzt war nicht der passende Zeitpunkt, dies zur Sprache zu bringen. »Manchmal meint man, jemanden genau zu kennen«, sagte er, »aber in Wirklichkeit kennt man ihn nicht.«
»Ich habe drei Jahre an seiner Seite verbracht. Ich habe ihn wirklich gekannt. Es muss am Fieber gelegen haben. Er war im Delirium, nicht bei Sinnen. Er wusste nicht, was er redet.«
»Lass ihn uns begraben und verschwinden.«
Vernon machte sich an die Arbeit, ein Grab auszuheben.
Tom und Sally halfen ihm dabei. Sie rodeten einen kleinen Platz hinter dem Lager, durchtrennten mit Choris Axt Wurzeln und gruben sich in den darunter befindlichen Boden. Nach zwanzig Minuten hatten sie im harten Lehmbo-den eine niedrige Grube ausgehoben. Sie trugen den toten Lehrer zu seinem Grab, legten ihn hinein und bedeckten ihn mit einer Lehmschicht. Anschließend füllten sie das Grab mit glatten Steinen vom Flussufer. Don Alfonso, Chori und Pingo waren bereits in den Booten. Sie waren ungeduldig und wollten ablegen.
»Alles in Ordnung mit dir?« Tom legte einen Arm um seinen Bruder.
»Ich habe einen Entschluss gefasst«, sagte Vernon. »Ich fahre nicht zurück. Ich komme mit euch.«
»Vernon, wir haben schon alles vorbereitet.«
»Wohin soll ich denn zurückkehren? Ich bin pleite. Ich hab nicht mal ein Auto. Und in den Ashram kann ich bestimmt nicht mehr.«
»Dir fällt schon was ein.«
»Mir ist schon was eingefallen: Ich komme mit.«
»Dein Zustand erlaubt nicht, dass du mitkommst. Du bist da draußen beinahe draufgegangen.«
»Das ist etwas, das ich tun muss«, sagte Vernon. »Ich bin jetzt wieder auf dem Damm.«
Tom zögerte. Er fragte sich, ob Vernon wirklich wieder in Ordnung war.
»Bitte, Tom.«
In Vernons Stimme schwang eine so inständige Bitte mit, dass Tom Überraschung empfand. Außerdem war er, wenn auch widerwillig, ein wenig stolz. Er packte Vernon an der Schulter. »In Ordnung. Wir machen es zusammen. So, wie Vater es gewollt hat.«
Don Alfonso klatschte in die Hände. »Was ist jetzt? Brechen wir nun auf?«
Tom nickte, und Don Alfonso gab den Befehl zum Ablegen.
»Jetzt, da wir zwei Boote haben«, sagte Sally, »stake ich ebenfalls.«
»Pah! Staken ist Männerarbeit!«
»Sie sind ein Sexistenschwein, Don Alfonso.«
Don Alfonsos Stirn runzelte sich. »Ein Sexistenschwein?
Was ist das für ein Tier? Oder war das gerade eine Beleidigung?«
»Das kann man wohl sagen«, sagte Sally.
Don Alfonso stakte kräftig los. Sein Boot glitt voran. Er grinste. »Dann freue ich mich. Es ist immer eine Ehre, wenn man von einer schönen Frau beleidigt wird.«
Marcus Aurelius Hauser untersuchte die weiße Vorderseite seines Hemdes und entdeckte einen kleinen Käfer, der sich mühsam hinaufkämpfte. Er zupfte ihn ab, zerquetschte ihn mit einem ihn zufriedenstellenden Knacken des Chitin-panzers zwischen Daumen und Zeigefinger und warf ihn weg. Dann fiel seine Aufmerksamkeit auf Philip Broadbent.
Von seiner Durchtriebenheit und Blasiertheit war nichts mehr übrig. Philip hockte, an Händen und Füßen gefesselt, am Boden. Er war verdreckt, von Mücken zerstochen und unrasiert. Es war einfach nicht zu fassen, wie manche Menschen ihre Hygiene im Dschungel vernachlässigten.
Hauser warf einen Blick an die Stelle, an der drei seiner Soldaten den Führer Orlando Ocotal festhielten. Ocotal hatte ihm beträchtlichen Ärger bereitet. Beinahe wäre ihm die Flucht gelungen. Hauser hatte das nur mit einer äußerst hartnäckigen Verfolgung verhindert. Sie hatten einen ganzen Tag vergeudet. Ocotals fataler Fehler hatte darin bestanden, einem Gringo, einem Yanqui, nicht zuzutrauen, dass er ihn im Sumpf aufspüren könne. Wahrscheinlich hatte er von Vietnam noch nie etwas gehört.
Umso besser. Nun war es heraus. Der Sumpf lag ohnehin fast hinter ihnen. Ocotals Nützlichkeit hatte sich erschöpft.
Die Lektion, die er ihm erteilen wollte, würde sich auch gut auf Philip auswirken.
Hauser inhalierte die faulige Dschungelluft. »Erinnern Sie sich noch an den Tag, an dem wir die Boote beladen haben, Philip? Sie wollten wissen, wofür wir die Handschellen und Ketten brauchen.«
Philip antwortete nicht.
Hauser fiel ein, was er ihm erklärt hatte: dass die Handschellen ein wichtiges psychologisches Werkzeug seien, um die Soldaten zu disziplinieren - eine Art tragbarer Knast.
Natürlich, hatte er behauptet, wolle er sie nicht wirklich einsetzen. »Nun wissen Sie«, sagte er, »für wen sie bestimmt waren.«
»Warum bringen Sie mich nicht einfach um, damit Sie es hinter sich haben?«
»Alles zu seiner Zeit. Man tötet den letzten Angehörigen einer Familie nicht leichten Herzens.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Wie schön, dass Sie sich danach erkundigen. In Kürze werde ich mich Ihrer beiden Brüder annehmen, die hinter uns durch den Sumpf kommen. Wenn der Letzte der Broadbent-Dynastie ausgestorben ist, nehme ich mir, was mir gehört.«
»Sie sind ein Psychopath.«
»Ich bin ein vernünftiger Mensch und spiele auf ein großes Unrecht an, das mir einst zugefügt wurde.«
»Und was war das für ein Unrecht?«
»Ihr Vater und ich waren Partner. Er hat mir meinen Anteil an der Beute seines ersten großen Fundes vorenthal-ten.«
»Das war vor vierzig Jahren.«
»Was das Verbrechen nur verschlimmert. Während ich mich vierzig Jahre lang abstrampeln musste, um über die Runden zu kommen, hat Ihr Vater im Luxus geschwelgt.«
Philip wand sich und rasselte mit seinen Ketten.
»Wie schön es doch ist, wenn sich das Blatt wendet. Vor vierzig Jahren hat Ihr Vater mich um ein Vermögen betro-gen. Während er seinen Reichtum verwaltete, ging ich in ein herrliches Land namens Vietnam. Nun kann ich mir alles und noch mehr zurückholen. Welch köstliche Ironie!
Ich glaube, Philip, Sie haben mir alles auf einem Silberteller serviert.«
Philip sagte nichts.
Hauser atmete erneut ein. Er liebte die Hitze und die Luft.
Er hatte sich nie gesünder und lebendiger gefühlt als im Dschungel. Es fehlte nur noch der schwache Wohlgeruch von Napalm.
Er wandte sich einem Soldaten zu: »Jetzt nehmen wir uns Ocotal vor. Kommen Sie, Philip, das wollen Sie doch bestimmt nicht verpassen.«
Die beiden Einbäume waren schon beladen. Die Soldaten schoben Ocotal und Philip in ein Boot. Dann warfen sie die Motoren an und fuhren in das Labyrinth aus Teichen und Seitenkanälen am anderen Ende des Sees. Hauser stand am Bug und hielt die Augen auf.
»Dort entlang.«
Die Boote knatterten weiter, bis sie einen stillen Tümpel erreichten, den das sinkende Wasser vom Hauptkanal getrennt hatte. Hauser wusste, dass der Tümpel von Pirañas nur so wimmelte. Sie hatten längst alle hier vorhandene Nahrung verzehrt und fraßen sich nun gegenseitig auf. Jedes Tier, das in eines dieser stehenden Gewässer stolperte, konnte einem nur Leid tun.
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