»Danke«, sagte ich. »Ich wünschte, ich hätte das früher gewusst. Trotzdem danke, dass Sie es mir gesagt haben.«
»Aber das ist doch selbstverständlich. Ich dachte, Sie wären wütend auf mich«, sagte sie zu meinem Erstaunen.
»Ich bin froh, dass ich Sie angerufen habe. Auf Wiederhören«, sagte ich. Meine Stimme war genauso betäubt wie mein Herz. Jede Minute konnte das Gefühl zurückkehren. Ich wollte nicht mehr mit dieser Frau telefonieren, wenn es so weit war.
Ida Beaumont sagte noch etwas über Essen auf Rädern, als ich auflegte.
Im selben Moment rief mich Lizzie Joyce an, ohne dass ich die Konsequenzen des soeben Gehörten überhaupt richtig begriffen hatte. »Oh Gott!«, sagte sie. »Ich kann es kaum fassen, dass Victoria tot ist. Sie waren mit ihr befreundet, oder? Kannten Sie sich schon lange? Harper, es tut mir so leid! Was, glauben Sie, ist ihr zugestoßen? Hatte es etwas mit der Suche nach dem Baby zu tun?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, erwiderte ich, auch wenn das gelogen war. Ich glaubte nicht, dass Lizzie Joyce etwas mit dem Mord an Victoria zu tun hatte, aber jemand aus ihrem Umfeld sehr wohl. Ich wunderte mich, warum sie mich anrief. Hatte Lizzie Joyce, die Geld wie Heu hatte, denn keine beste Freundin? Und was war mit der Schwester, dem Freund und dem Bruder? Warum rief sie nicht Leute an, mit denen sie in irgendwelchen Vorständen saß? Leute, die für sie arbeiteten, ihr die Haare und Fingernägel machten, bevor sie fein ausging? Leute, die die Tonnen für ihre Turniere aufstellten?
Nachdem ich ihr kurz zugehört hatte, merkte ich, dass Lizzie mit jemandem sprechen wollte, den sie nicht erst noch einweihen musste. Mit jemandem, der Victoria gekannt hatte. Und ich war nun mal diejenige, auf die beides zutraf.
»Ich glaube, ich werde mich an die Detektei wenden, die die Firma meines Großvaters immer beauftragt«, sagte sie. »Dabei dachte ich, es wäre besser, eine unabhängige Frau zu beschäftigen. Jemanden, der sich nicht mit unseren Geschäften auskennt und nicht in unsere Familiengeschichte verwickelt ist. Doch vermutlich bin ich für ihren Tod verantwortlich. Wäre ich zu unserer üblichen Detektei gegangen, wäre sie noch am Leben.«
Dem konnte ich nicht widersprechen. »Wieso arbeiten Sie überhaupt mit einer Detektei zusammen?«, erkundigte ich mich stattdessen.
»Granddaddy begann damit, als er Chef einer riesigen Firma wurde. Mehr als nur ein Rancher. Er wusste gern, wen er einstellte, wenigstens bei den Schlüsselpositionen.« Lizzie schien sich zu wundern, dass ich überhaupt fragte.
»Warum hat er sie dann nicht beauftragt, Erkundigungen über Mariah Parish einzuholen?«
»Granddaddy hatte sie kennengelernt, als sie noch für die Peadens arbeitete. Und als er jemanden brauchte und sie zur Verfügung stand, schien das die ideale Lösung zu sein. Wahrscheinlich hatte er das Gefühl, sie zu kennen, und wollte deshalb keinerlei Erkundigungen mehr über sie einholen. Schließlich stellte sie keine Schecks für uns aus oder so etwas.«
Er hätte ihr nicht sein Scheckbuch anvertraut. Aber er vertraute ihren Kochkünsten, ohne Angst zu haben, vergiftet zu werden. Und er vertraute ihren Putzkünsten, ohne Angst zu haben, bestohlen zu werden. Selbst misstrauische reiche Leute haben ihre Achillesferse. Nach allem, was wir aus den Unterlagen über Mariah wussten, war das wirklich eine Ironie des Schicksals.
Ich hatte nicht gewusst, dass Rich Joyce Mariah bereits begegnet war, bevor sie bei ihm einzog. Drexell hatte das bei dem Abendessen mit Victoria gar nicht erwähnt. Vielleicht hatte Rich das als gute Gelegenheit gesehen, eine heimliche Geliebte einzuschleusen. Vielleicht hatte ihm sein Freund, bei dem Mariah zuerst gearbeitet hatte, erzählt, dass er mit ihr im Bett gewesen sei. Stups, stups, zwinker, zwinker. Ich habe hier eine gute Frau für dich, die kochen, deine Tabletten zählen und dein Bett wärmen kann, Rich. Sie kann sofort bei dir einziehen.
»Und Sie haben nicht im Traum daran gedacht, Erkundigungen über sie einzuholen wie bei jedem anderen Angestellten auch?«
»Na ja«, sagte Lizzie mit wachsendem Unbehagen. »Sie war sich längst mit Granddaddy einig geworden, als wir davon erfuhren. Da er noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, konnten wir uns da nicht einmischen.«
Alle Joyce-Enkel hatten Angst vor dem Patriarchen gehabt. »Und im Nachhinein haben Sie auch keine Erkundigungen einholen lassen?«
»Na ja, dann hätte er davon erfahren. Damals hätte ich eine unabhängige Detektivin anheuern sollen. Aber um ehrlich zu sein, habe ich mir zu der Zeit nicht viele Gedanken darüber gemacht. Das Ganze ist so lange her, ich war noch jung und nicht so selbstbewusst. Außerdem glaubte ich natürlich, Granddaddy würde ewig leben.« Lizzie verstummte, wahrscheinlich weil sie merkte, dass sie zu viel von sich preisgab. »Na ja, ich wollte Ihnen nur sagen, wie leid mir das mit Ihrer Freundin tut. Wie geht es eigentlich Ihrem Bruder? Die ganze Sache nimmt immer dramatischere Formen an.«
»Wünschten Sie, Sie hätten mich niemals engagiert?«
Schweigen. »Ehrlich gesagt, ja«, sagte sie. »So wie es aussieht, sind viele Menschen gestorben, und das vollkommen umsonst. Was hat sich schon geändert? Welche neuen Erkenntnisse habe ich gewonnen? Gar keine. Mein Großvater sah eine Klapperschlange und starb. Wir wissen nicht genau, ob noch jemand dabei war. Er ist und bleibt tot. Mariah ist ebenfalls tot. Nur dass sie in meiner Vorstellung jetzt nicht mehr in Frieden ruht, seit ich weiß, dass sie im Kindbett starb. Wo ist das Baby? Ist das Baby eine Tante oder ein Onkel von mir? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht werde ich es niemals herausfinden.«
»Irgendjemand scheint dafür zu sorgen, dass Sie es niemals herausfinden werden«, sagte ich. »Auf Wiederhören, Lizzie.« Dann legte ich auf.
Manfred kam vorbei, und ich war froh, ihn zu sehen. Aber ich hatte keine große Lust zu reden. Er fragte mich nach dem Rucksack.
»Der gehört meiner Schwester«, sagte ich. »Sie hat ihn an dem Tag zurückgelassen, an dem sie verschwand.«
Ich drehte mich um, um auf Tollivers Rufe zu reagieren. Er war kurz aufgewacht und bat um eine Schmerztablette. Noch bevor er sie einnehmen konnte, schlief er wieder ein.
Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, ließ Manfred den Rucksack los. Er sah traurig aus. »Tut mir leid, dass dir das passiert ist, Harper.«
»Danke für deine Anteilnahme, Manfred, aber es ist meiner Schwester passiert. Ich habe nur mit den Folgen zu kämpfen.«
»Wir sehen uns bald. Mach dir keine Sorgen, wenn ich mich für ein paar Tage nicht melde. Ich habe noch etwas zu erledigen.«
»Oh … na gut.« Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mir um Manfred Sorgen zu machen. Bevor er ging, gab er mir noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange, und ich war froh, die Tür hinter ihm zumachen zu können. Ich setzte mich und dachte über meine Schwester nach.
18
Als Tolliver am nächsten Morgen aufwachte, ging es ihm deutlich besser. Er hatte zwölf Stunden durchgeschlafen, und kaum dass er wach wurde, ließ er mich spüren, wie energiegeladen er war. Wir mussten vorsichtig sein, aber wenn ich oben saß, konnten wir Sex haben. Und zwar völlig problemlos. Ehrlich gesagt, war es herrlich. Ich hatte schon Angst, er könnte explodieren, so sehr genoss er es. Danach lag er keuchend da, als hätte er den anstrengendsten Part gehabt. Ich ließ mich neben ihn plumpsen und lachte erschöpft.
»Jetzt bin ich wieder ganz ich selbst«, sagte er. »Irgendwie fühlt man sich weniger männlich, wenn man bettlägerig und außerstande ist, Sex zu haben. Man verwandelt sich wieder in ein kleines Kind.«
»Lass uns einfach ins Auto steigen und abhauen«, schlug ich vor. »Lass uns nach Hause fahren. Wir könnten einen Tag in St. Louis bleiben. Bis dahin überstehst du die Fahrt bestimmt.«
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